Das Herz der Nacht
des Tones ist nur ein Mittel dazu, andere sind die Lautstärke des Tones und die Intensität, mit der sie angeschlagen werden. Versuchen Sie es. Spielen Sie mit den Möglichkeiten. Befreien Sie sich von der schlichten Reproduktion!«
Nun war Karoline Wallberg wieder in ihrem Element. Was sie zuvor auch verunsichert haben mochte, nun war es vergessen. Jetzt erfüllte nur noch Musik ihren Geist und ihre Seele.
András spielte die Melodie auf verschiedene Weisen. Karoline hörte aufmerksam zu und unterlegte diese dann mit einer Bassstimme. Sie erweiterten die Oberstimme, fügten neue Motive ein und kamen wie in einem Rondo immer wieder zu den ursprünglichen Takten zurück, die sich jedoch im Ausdruck stets wandelten. Karoline hielt inne und schrieb ein paar Begleittakte für die linke Hand auf.
»Nun tauschen wir die Plätze. Ich spiele die Melodie, Sie die Bassstimme. Achten Sie darauf, welche Stimmung ich in die Melodie lege, und versuchen Sie sich anzugleichen.«
András begriff schnell. Und bald schon begann er die vorgegebenen Takte ein wenig zu variieren. Karoline strahlte ihn so offen an, dass ihr Lächeln ihn wärmte, wie die fast vergessenen Sonnenstrahlen, die er einst als Mensch auf seiner Haut gespürt hatte. Sie tauschten wieder. Dann spielte Karoline eigene kleine Kompositionen oder zumindest Themen daraus, während András aufmerksam lauschte und danach mit ihrer Hilfe die Melodie wiedergab und sie immer weiter variierte.
»Sie sind unglaublich, Graf! Ich habe niemals einen Schüler erlebt, der so schnell lernte. Sie sollten Gott für dieses ungewöhnliche Talent danken!«
»Äh, ja, bei Gelegenheit«, murmelte er.
»Versuchen Sie nun, die Melodien auf dem Notenpapier festzuhalten. Sie erinnern sich doch noch daran, welcher Ton welcher Linie entspricht?«
András nickte und nahm ein leeres Notenblatt zur Hand. In Gedanken ließ er die Melodie in sich erklingen und schrieb sie Ton für Ton nieder. Bei manchen Sprüngen zögerte er kurz und überlegte, welche der Tasten er angeschlagen hatte, ehe er die Note einzeichnete.
Solange András mit Feder und Tinte beschäftigt war, spielte Karoline einige kleine Stücke. Bald schon hatte sie nicht nur den Schüler neben sich vergessen. Sie schien Zeit und Raum entrückt. Die Stücke rauschten wie Sturmböen dahin, wandelten sich, nahmen neue Motive auf. Manche Themen kamen András aus den Stücken der großen Meister bekannt vor, dann wieder glaubte er, Karolines Geist darin zu erkennen. So brauste die Musik dahin. Man konnte sich ihrer tiefen Wirkung nicht entziehen. Ja, so müsste man spielen können! András schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er es ihr gleichtun konnte. – In seinem eigenen Stil, wie Karoline nicht müde wurde zu betonen.
Wieder wechselte der Charakter der Musik. Sie wurde langsamer, schwerer. András sah von seinen Noten auf. Auch dieses Motiv kannte er. Diese Musik hatte ihn einst tief beeindruckt, als er sie das erste Mal hörte. Er sah zu Karoline auf, doch sie hatte den Kopf leicht erhoben, ihr Blick war in die Ferne entrückt. Sie war wieder ganz in ihre Welt eingetaucht.
»Es ist Mozarts Requiem, nicht wahr?«, fragte András, der über das gewaltige Stück sein Notenpapier vergaß.
Karoline schreckte zusammen. »Was?« Mit einem Misston endete die Passage. Unheilvoll drängte die Stille vor. Die Pianistin saß auf ihrem Schemel, die Augen weit aufgerissen, die Hände bebend noch auf den Tasten, doch wie in Abwehr von sich gestreckt.
»Das Requiem!«, hauchte sie.
»Ja«, stimmte ihr András zu. »Das Requiem, das hier nebenan in der Michaelerkirche zum allerersten Mal erklang, als Totengesang für den großen Meister, der es erschaffen hat.«
Sie schauderte. András erhob sich und trat zu ihr. Er konnte sich nicht erklären, was eben geschehen war. Was hatte dieses Entsetzen ausgelöst?
»Was ist mit Ihnen?« Er stand nun mit dem Rücken zur Tür und beugte sich ein wenig nach vorn. Karoline reagierte nicht. Ihr Blick war starr zur Tür gerichtet. Noch ehe sich András umdrehte, stieg ihm der Geruch in die Nase: das Mädchen mit dem bittersüßen Duft!
Es wirkte fast ein wenig wie ein Geist, der sich hierher in die Welt der Musik verirrt hat. Stumm stand es in der Türöffnung. Die schwarzen Haare streng zurückgebunden, das schmale, ovale Gesicht fast von gespensterhafter Transparenz. Ihr magerer Körper steckte in einem für sie zu großen schwarzen Kleid, das die Blässe ihrer Haut noch unterstrich. Sie mochte
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