Das Herz der Wueste
versuchte nachzudenken, was ihr allerdings schwerfiel, wenn er so dicht vor ihr stand.
„Ich schätze, ich würde den Eingriff noch hinausschieben. Nicht, weil ich keine Chirurgin bin, und auch nicht wegen der Umstände, sondern weil es manchmal sinnvoller ist abzuwarten und zu beobachten. Als ich seinen Bauch untersuchte, hat er kein einziges Mal zusammengezuckt, und das hätte er tun müssen, wenn irgendwo eine schwere Verletzung vorläge.“
Kamid nickte. Er hätte den Mann gern selbst untersucht, aber das hätte so ausgesehen, als traue er ihrem Urteil nicht, und er wollte ihre Gefühle nicht verletzen.
„Trotzdem möchte ich ihm noch mehr Blut geben, um zu sehen, ob das seinem Blutdruck hilft.“ Sie schwieg kurz und lächelte ihn an. „Es juckt Sie in den Fingern, ihn selbst zu untersuchen, stimmt’s?“ Ihr Lächeln vertiefte sich, und ihre strahlenden Augen ließen Kamid an Dinge denken, die mit Medizin nicht das Geringste zu tun hatten. „Nur zu, ich war schon immer dafür, eine zweite Meinung einzuholen.“
Er nahm sie beim Wort, und als er fertig war, musste er ihr zustimmen. Falls Akbars Zustand sich im Laufe der Nacht verschlechterte, würden sie operieren, aber vorerst wollten sie abwarten.
Ob sie froh darüber war, dass er ihre Einschätzung teilte? Schwer zu sagen, da sie gerade mit den Vorbereitungen für ihre zweite Blutspende beschäftigt war. Als er sich kurze Zeit später über sie beugte, um ihr Blut abzunehmen, fragte er sich unwillkürlich, ob sie auch diese verwirrende Anziehung zwischen ihnen spürte …
4. KAPITEL
Jenny lehnte sich zurück und wünschte, Aisha oder Marij wären hier, um ihr Blut abzunehmen. Aber sie hatte Marij ins Bett geschickt, damit sie ihren wohlverdienten Schlaf bekam, und auch Aisha war längst in ihr Zelt gegangen.
Kamid kniete neben ihr, so dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spürte. Hitze flammte in ihr auf, erregte sie gegen ihren Willen …
„Gehen Sie schlafen, wenn wir hiermit fertig sind“, sagte er. „Heute Nacht ist er mein Patient.“
„Ein paar Stunden kann ich auch auf ihn aufpassen.“ Es fiel ihr nicht leicht, sachlich zu klingen. „Ich muss die TB-Proben untersuchen und für morgen die Medikamente zusammenstellen.“
„Jetzt?“ Überrascht blickte er sie an.
„Natürlich, wann sonst? Deshalb bin ich doch hier. Wir nehmen an drei aufeinanderfolgenden Tagen Proben, und da wir nicht mehr als dreißig Personen täglich testen können, haben wir das Lager in Sektionen aufgeteilt. In Sektion eins befinden sich die Tuberkulosekranken, und in Abschnitt sieben sind wir noch in der Testphase. Dort bringen wir jeden neuen Flüchtling unter.“
Eine logistische Herausforderung, da, soweit Kamid wusste, an die tausend Menschen im Camp lebten.
„Wie viele behandeln Sie?“
„Zurzeit ungefähr zweihundertachtzig. Einige stehen noch am Anfang ihrer Behandlung, andere nehmen seit vier Monaten teil und haben zwei weitere vor sich.“
„Sechs Monate insgesamt?“
„Ja.“ Sie erklärte, welche Medikamente sie verabreichten, um die Therapie von einem Dreivierteljahr auf ein halbes Jahr zu verkürzen. „Außerdem ist es bei einem Zeitraum von sechs Monaten einfacher, die Wirkung zu kontrollieren.“
„Weil Sie mehr Abbrecher haben, je länger die Behandlung dauert?“
„So lautet die Theorie, aber es brechen trotzdem noch viele Patienten die Behandlung ab.“
Interessierte er sich wirklich für ihre Arbeit, oder machte er nur Konversation?
Warum war ihr das nicht völlig egal? Weil sie den Verdacht nicht loswurde, sie könnte ihm nicht trauen, oder weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte?
„Und?“ Der attraktive, verdächtige Mann blickte sie erwartungsvoll an.
„Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken woanders. Was haben Sie gesagt?“
„Ich hatte gefragt, ob diejenigen, die die Behandlung abbrechen, im Lager bleiben, oder ob es Leute gibt, die über die Grenze zurückgehen.“
„Einige sicher, aber vermutlich wird das vorerst aufhören nach dem, was Akbar heute passiert ist. Andere schließen sich den Händlern an, die in die Stadt diesseits der Grenze ziehen.“ Sie zögerte, ehe sie rasch hinzufügte: „Oje, ich glaube, das bedeutet, sie sind illegale Einwanderer. Ich hätte das nicht sagen sollen.“
Kamid lächelte. „Die Grenzen, die dieses Land zu unserem und ein Gebiet auf der anderen Seite zu einem fremden machen, wurden auf Karten aus Papier gezogen, aber es ist weitaus schwieriger, im Wüstensand
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