Das Herz der Wueste
echte Trennlinien festzulegen.
Ich denke, die Menschen sollten sich uneingeschränkt bewegen können, vor allem Angehörige der Nomadenvölker.“
„Der Meinung bin ich auch.“ Voller Wärme blickte sie ihn an. Seine tiefe, aufrichtige Anteilnahme am Leben des Wüstenvolkes gefiel ihr. „Der Beutel ist voll, nicht?“, wechselte sie das Thema. „Ich muss noch etwas tun.“
Er machte sich daran, die Blutübertragung vorzunehmen, und Jenny reckte und streckte sich, ehe sie aufstand, um sich in einer anderen Ecke des Zeltes um die TB-Tests zu kümmern. Eine Gaslaterne erleuchtete ihren provisorischen Arbeitsplatz, während sie die Proben untersuchte, Notizen zu jedem einzelnen Patienten machte und die Medikamente für den nächsten Tag auflistete.
Marij und Aisha würden sie verteilen, unterstützt von einer Gruppe von Jungen, die durchs Lager liefen, um diejenigen ausfindig zu machen, die nicht zum Behandlungszelt gekommen waren.
„Was ist mit der Ansteckungsgefahr?“, fragte Kamid, der hinter ihr stand. „Immerhin leben hier viele Menschen auf engem Raum dicht beieinander.“
„Wissenschaftlich belegen kann ich es nicht, aber die Krankheit scheint sich nicht so schnell auszubreiten, sobald mit der Behandlung begonnen wurde. Wir impfen die, die nachgewiesenermaßen nicht erkrankt sind, sodass wir zuversichtlich sein können, dass es zumindest in dieser Gegend irgendwann keine Tuberkulose mehr gibt.“
„Irgendwann? Werden Sie denn so lange bleiben, dass Sie das noch erleben?“
Jenny schüttelte den Kopf. „Ich bleibe nur, bis die Tests abgeschlossen sind und die Therapie auf den Weg gebracht ist. Dann untersuche ich noch, ob Medikamentenunverträglichkeiten auftreten, und suche nach Ersatz, falls nötig. In einem Monat jedoch werde ich Marij und Aisha die Überwachung der Behandlung überlassen und mir etwas anderes suchen … an einem Ort, wo ich ebenfalls gebraucht werde.“ „Immer unterwegs? Sind Sie auf der Flucht? Was steckt dahinter, ein gebrochenes Herz, eine gescheiterte Ehe?“ Verärgert wandte sie sich ihm zu. Was fiel ihm ein, so mit ihr zu reden?
Obwohl, in gewisser Weise könnte er recht haben …
Nein, nicht nach dieser langen Zeit. Seit dem Unfall waren fünf Jahre vergangen. Fünf Jahre, seit sie David und ihr ungeborenes Kind verloren hatte und ihre Welt in Scherben gegangen war.
„Sie irren sich, ich laufe nicht weg, sondern ich habe ein Ziel, und zwar Menschen zu helfen“, erklärte sie bestimmt. „Ich liebe meine Arbeit, ich bin gut, und ich werde weitermachen, solange ich kann, weil ich alles habe, was ich brauche: Abenteuer, Herausforderung und Spaß. Und Zufriedenheit. Später, wenn ich älter bin, werde ich vielleicht kürzertreten müssen, dann bleibt noch genug Zeit, meinen Lebensstil zu überdenken und zu verändern.“
Damit klar war, dass sie es ernst meinte, schob sie das Kinn vor und sah ihm direkt in die Augen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Glaubte er ihr nicht, dass sie ihre Arbeit liebte, die Herausforderung, das Abenteuer, oder dass sie noch lange weitermachen würde?
Sie würde es nicht herausfinden, also widmete sie sich wieder ihrer Arbeit. Gleich darauf spürte sie mehr, als dass sie es sah, wie Kamid näher kam und ihr über die Schulter blickte.
„Geben Sie den Patienten Nummern?“
War das als Kritik gemeint? Abrupt drehte sie sich um. „Aisha und Marij reden sie mit ihrem Namen an, aber da ich mit der Sprache nicht vertraut bin, könnte ich einen Fehler machen und zum Beispiel einen Mann namens Mahood mit Mahmoud verwechseln. Das wäre fatal.“
Jenny hielt das für eine vernünftige Erklärung. Warum blieb Kamid noch immer so dicht bei ihr? Bestimmt nicht, weil Blutproben eine unwiderstehliche Faszination auf ihn ausübten!
Doch viel wichtiger war, was seine Gegenwart mit ihr anrichtete. Draußen auf dem Felsen, von dem aus man die Wüste überblickte, hatte sie noch geglaubt, es läge an der kühlen Brise, die sie zum Erschauern brachte. Das Gefühl war das gleiche, wieder dieses Prickeln auf der Haut, das innere Erzittern – nur hier drinnen wehte nicht das leiseste Lüftchen …
„Machen Sie das jeden Abend? Diese Listen schreiben?“
„Sicher. Hier trage ich die Verantwortung, also ist es nur recht und billig, dass ich mich darum kümmere.“
Jetzt konnte er sich zurückziehen.
Was er auch tat – jedoch nur einen Moment, dann hatte er sich einen Stuhl herangeholt und setzte sich neben sie. „Ich lese die Ergebnisse ab“,
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