Das Herz der Wueste
mit einem Plastikbehälter zurück, der in gefülltem Zustand ziemlich schwer sein musste. Wie schaffte sie es nur, geschweige denn ein kleiner Junge, ihn zu tragen?
Kamid griff danach, und seine Finger streiften ihre. Im selben Moment hatte er das Gefühl, das Dümmste zu tun, was ihm je im Leben passiert war. Diese Frau, eine Fremde, streitbar und sehr eigensinnig, hatte ihn bereits mit einem magischen Zauber belegt, aber noch war er stark genug, ihm zu widerstehen. Wenn er allerdings jetzt mit ihr nach draußen ging, vielleicht wieder im silbrigen Mondlicht stehen würde, könnte er sich tiefer verstricken, als ihm lieb war.
Irgendetwas war im Zelt passiert. Jenny spürte es, ohne allerdings genau zu wissen, was sie beunruhigte. Als hätte ihre Unterhaltung über die Bekämpfung von Tuberkulose nur oberflächlich stattgefunden, während sich in Wirklichkeit etwas ganz anderes abgespielt hatte.
Aber was?
Sie hatte nicht die blasseste Ahnung.
Doch es hatte etwas mit dem Herzflattern zu tun, den Schmetterlingen im Bauch, den Schauern, die ihr über den Rücken rieselten, sobald dieser faszinierende Mann in ihrer Nähe war.
Kaum hatte sie das Zelt verlassen und sich aus der gebückten Haltung aufgerichtet, wurde dieses Gefühl stärker. Jenny stand im Mondlicht, ihr Herz klopfte. Weil sie den Atem angehalten hatte? Weil etwas in der silbern durchfluteten Luft hing, das sie nicht benennen konnte? Hatte es mit dem Mann an ihrer Seite zu tun? Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Leben eine entscheidende Wendung genommen hatte, seit er im Lager aufgetaucht war.
„Das ist doch lächerlich!“
„Lächerlich?“, wiederholte Kamid verblüfft, und sie stellte entsetzt fest, dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte.
„Na ja, lächerlich nicht“, versuchte sie zu retten, was zu retten war. „Eher unvorstellbar. Da befinde ich mich an der Grenze eines Wüstenstaates, umgeben von Beduinenzelten, von Ziegen und Schafen, und hole Wasser, zusammen mit einem Fremden. Es ist, als wären die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, die ich als Kind gelesen habe, Wirklichkeit geworden.“
„Bis wir das Wasserloch erreichen und keine Oase vorfinden, in deren Wasseroberfläche Sie sich spiegeln können, oder einen Brunnen, aus dem frisches Trinkwasser sprudelt, sondern einen schwarzen, stinkenden Tank. Staubig, mit kleinen Löchern, aus denen das kostbare Nass sickert, und wahrscheinlich voller Bakterien. Bald bekommen Sie Ihren Brunnen, das verspreche ich Ihnen.“
Er klang verärgert, und sofort fragte sie sich, ob sie ihn mit ihrem albernen Geplapper von orientalischen Märchen verstimmt hatte. Doch nachdem sie ihren Kanister gefüllt hatten, schien er sich wieder beruhigt zu haben, und auf dem Rückweg zeigte er ihr Sterne und nannte ihr die Namen von Sternbildern, die sie nicht kannte, weil sie nur hier in der nördlichen Hemisphäre zu sehen waren.
Kamid trug das Wasser ins Zelt und folgte Jenny in den Bereich hinter dem Teppich. Verwundert registrierte er die ärmliche Ausstattung.
„Sie haben keinen Tisch, keinen Stuhl, nicht einmal ein Bett?“, stieß er hervor, während sie eine kleine Gaslaterne anzündete.
Jenny hängte sie an einen Metallhaken und drehte sich lächelnd zu Kamid um. „Die Flüchtlinge auch nicht“, meinte sie, „aber ich habe meinen Schlafsack und einen Koffer mit Kleidung, eine Kiste Bücher, eine Schüssel, um mich zu waschen, und meine Wasserkanister. Was will ich mehr?“
Ihm fielen seine Schwägerinnen ein und die Frauen, deren Gesellschaft er genossen hatte. Sie schliefen in prunkvollen, duftenden Gemächern und besaßen Schränke voller Kleidung für jede erdenkliche Gelegenheit sowie Regale, die sich unter kostbaren Kosmetika bogen. Sogar seine Mutter, die in vielen Punkten sehr traditionell lebte, hatte neben ihrem Schlafzimmer ein eigenes Bad, wo sich unter dem Spiegel teure Parfümflakons aneinanderreihten.
„Können Sie so leben?“
„Ich habe mich daran gewöhnt“, sagte sie, „und inzwischen das einfache Leben mit leichtem Gepäck schätzen gelernt.“ Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme wehmütig. „Allerdings sehne ich mich manchmal nach einem richtigen Bad … einfach im warmen Wasser zu liegen, weiche Schaumflocken auf meiner Haut zu spüren. Jedes Mal, wenn ich in die Zivilisation zurückkehre, gönne ich mir das Vergnügen, ein Hotelzimmer mit Badewanne zu nehmen, um mich ein bisschen zu verwöhnen.“
Seine Fantasie ging mit ihm durch.
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