Das Herz der Wueste
manchmal flüchtig der Gedanke, ob sie das Umherziehen würde aufgeben können. Ob sie sich vielleicht an einem Ort voller Schönheit und Magie niederlassen sollte, damit die Wunden der Vergangenheit endgültig heilten …
Kamid merkte erst jetzt, dass sie ihm nicht gefolgt war, und drehte sich um. „Kommst du?“, unterbrach er ihr stummes Zwiegespräch.
Sie eilte zu ihm und hoffte, er würde nicht fragen, warum sie zurückgeblieben war. Jede Erklärung hätte albern geklungen.
Das Funkgerät war an seinem Platz, und die kleinen Jungen zeigten sich bereit, Kamid durchs Lager zu führen.
„Ich gehe zurück ins Sanitätszelt“, verkündete Jenny, nachdem alles geklärt war.
Zu ihrem Erstaunen waren Lia und Akbar allein. Er lag auf der Seite, den Rücken seiner Frau zugewandt. Da sie dachte, er schliefe, wollte Jenny sich leise an ihnen vorbeischleichen, denn in der anderen Ecke des Zeltes standen bereits die Menschen Schlange, die auf TB getestet werden oder ihre Medikamente bekommen sollten.
Aber trotz des dämmrigen Lichts entgingen ihr die Tränenspuren auf Lias Gesicht nicht. Jenny wünschte sich nicht zum ersten Mal, besser Arabisch zu sprechen.
Sie eilte zu Aisha und nahm sie beiseite. „Lia weint. Wissen Sie warum? Haben Akbars Freunde sich geweigert, bei ihm zu wachen?“
„Er will niemanden sehen. Er will sterben.“
„Hat er Ihnen das gesagt?“
„Nein, er hat seine Frau angebrüllt, als Sie und der andere Doktor weg waren.“
„Begreifen Sie das, Aisha?“
Sie zögerte. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“
„Möchten Sie es mir erklären?“, hakte Jenny behutsam nach. Vielleicht war es ihrer Assistentin irgendwie unangenehm, über Akbar zu reden.
„Kann sein, dass er die Schande nicht erträgt, weil er seinen Sohn nicht gerettet hat. Damit ist er als Mann nicht mehr viel wert, und so will er nicht weiterleben.“
Jenny nickte gedankenvoll. Hier galten die Männer als starke Beschützer der Familie, kein Wunder, dass Akbar sich als Versager fühlte. Ein Vater, der sein Kind im Stich gelassen hatte.
„Wir müssen den Jungen holen. Bestimmt finden wir jemanden, der mit den Stammesangehörigen jenseits der Grenze Kontakt aufnehmen kann. Kennen Sie jemanden?“
Aisha war blass geworden und schüttelte abwehrend den Kopf.
„Kamid hat Beziehungen in der Stadt.“ Jenny gab nicht auf. „Vielleicht weiß er, wer für uns vermitteln könnte.“
„Vielleicht“, antwortete Aisha vage.
Jenny ließ sich davon nicht entmutigen. Im Laufe des Tages wuchs ihre Entschlossenheit, den kleinen Hamid zurückzuholen, und abends sprach sie Kamid darauf an.
„Wenn du dafür sorgen kannst, dass hier ein Brunnen gebohrt wird, kennst du sicher auch Leute, die für uns verhandeln können. Akbars Zustand ist weiterhin kritisch, und wenn er keinen Lebenswillen mehr hat, werden auch wir ihm nicht helfen können.“
Kamid betrachtete sie stumm, dann deutete er auf die untergehende Sonne. „Angesichts dieser Schönheit … wird dein Kopf nicht frei von allen anderen Gedanken?“
Jenny blickte nach Westen, wo zinnoberrote und zartlila Streifen die orangerote Glut durchzogen. „Normalerweise ja“, gab sie zu. „Deshalb komme ich jeden Abend hierher. Heute gehen mir Akbars Kummer und Lias Verzweiflung nicht aus dem Sinn, und ich will den beiden helfen. Das Leben eines Menschen ist doch wohl wichtiger als malerische Sonnenuntergänge.“
Er trat auf sie zu, nahm ihre Hand und führte sie zu dem Felsen, auf dem sie gestern schon gesessen hatten. „Setz dich.“
Sie gehorchte, um der Berührung zu entkommen. Erinnerungen an den Kuss tauchten in ihr auf, und sie versuchte, das warme Kribbeln im Bauch zu ignorieren.
„Und jetzt atme die kühle Abendluft ein, und schau dich um“, befahl Kamid. „Akbar wird nicht sterben, in den nächsten zehn Minuten nicht und auch nicht in der nächsten Stunde. Die erhabene Schönheit der Wüste ist Balsam für die Seele, du musst es nur zulassen.“
Ich will nicht, hätte sie fast gesagt. Die Stimmung war ihr viel zu … romantisch.
Das war neu. Seit ihrer Ankunft hatte sie jeden Abend hier gesessen und den herrlichen Ausblick genossen, ohne im Mindesten romantische Gefühle zu verspüren. Natürlich hatte sie oft an David gedacht, sich jedoch eher gefragt, was er von ihrem Nomadenleben halten würde, das sich weit, weit weg von dem Haus mit Garten und weißem Holzzaun abspielte, das sie für sich und ihre kleine Familie geplant hatten.
Die Jenny, die David
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