Das Herz der Wueste
dass solche kleinen Gesten sie zum Weinen brachten?
Wegen des Babys?
Sie legte die Hand auf ihren Bauch, und sofort war die Erinnerung wieder da. Daran, dass er groß und rund gewesen war, im achten Monat ihrer Schwangerschaft, als sie bei dem Unfall nicht nur David, sondern auch ihren ungeborenen Sohn verlor.
Um nicht in lähmender Melancholie zu versinken, tippte sie Kamid auf die Schulter, der gerade auf den Beifahrersitz geklettert war.
„Hat er Ärger bekommen?“, fragte sie.
Kamid schüttelte den Kopf. „Der Anführer glaubt, wir hätten den Weg durch die Berge allein gefunden, wahrscheinlich, weil Hamid uns geführt hat.“
Da er sie nicht beunruhigen wollte, hatte er die Wahrheit etwas beschönigt. Tatsache war, dass der Anführer sehr misstrauisch reagiert hatte. Und da eine Ausländerin den Weg mit Sicherheit nicht kannte, würde sein Verdacht zweifellos auf Kamid fallen.
Doch angesichts des nahenden Sandsturms zählte das zurzeit zu Kamids geringsten Problemen. Der Wind nahm an Stärke zu, trieb Sand gegen den Wagen, und auf der Windschutzscheibe blieb feiner Staub liegen.
Als sie das Frauenzelt erreichten, fegten die Böen bereits über die Wüste. Bald würde hier der Sturm tosen, und jeder, der keinen sicheren Unterschlupf gefunden hatte, wäre innerhalb von Minuten orientierungslos … und verloren.
Alle anderen saßen an Ort und Stelle fest.
Möglicherweise tagelang.
Der Wagen hielt, und Jenny stieg aus. Windstöße zerrten an ihr, rissen wie mit langen, spitzen Fingern an ihrem Rock.
„Sie sind zurückgekommen.“
Der Stammesführer war bei seiner Frau, neben sich Jennys Arzttasche. Die anderen Frauen hielten sich im Hintergrund.
„Ich hatte es versprochen, und ich werde weiterhin nach ihr sehen, bis die Wunden gut verheilt sind. Da ich mein Wort gehalten habe, erwarte ich, dass Sie auch zu Ihrem stehen und mich gehen lassen, wann ich will.“
Der Mann nickte, aber Jenny wusste inzwischen, dass es nichts zu bedeuten hatte. Ehe er sein Versprechen nicht mit einem Handschlag bekräftigt hatte, war es nichts wert, und wahrscheinlich würde er ihr, einer Frau, sowieso nicht die Hand schütteln. Solche Verhandlungen überließ sie also besser Kamid.
Doch sie konnte immerhin Friedensangebote machen. Jenny kniete sich neben die Schlafstatt der jungen Mutter und begann das Band, das die kleine Tasche zusammenhielt, aufzuknoten.
„Nein!“ Der Anführer entriss ihr den Beutel.
„Hey, alles in Ordnung. Ich will Ihrer Frau oder Ihrem Baby nichts tun, aber die Frauen aus dem Lager haben mir Geschenke mitgegeben, und ich wollte sie Ihrer Frau zeigen.“
Inzwischen hatte er den Inhalt der Tasche überprüft und wirkte tatsächlich ein bisschen verlegen.
„Das ist sehr freundlich von ihnen“, sagte er schließlich, sprach mit seiner Frau und breitete die Gaben vor ihr aus.
Sie nahm jedes in die Hand, betrachtete es lächelnd, sah immer wieder zu ihrem kleinen Sohn hin und verstaute die Sachen dann wieder im Beutel.
„Wie geht es Ihrer Frau?“ Jenny versuchte zu vergessen, wie sehr er sie mit seinem aggressiven Verhalten erschreckt hatte.
„Sie hat Schmerzen, aber die Tabletten helfen, und das Eis auch. Wird es noch lange dauern?“
„So lange, wie alle Wunden zum Heilen brauchen, innere und äußere.“
Er nickte und gab ihre Antwort an seine Frau weiter.
Als sie dann bat, sie untersuchen zu dürfen, stand er auf und erklärte, dass er draußen bei Kamid bleiben würde, während dieser für Jenny übersetzte. Für ihn schicke es sich nicht, während der Untersuchung anwesend zu sein, und er könnte auch nicht dolmetschen, weil er mit Frauen seines Stammes nicht über solche Sachen rede.
Während Jenny die Narbe untersuchte und einen neuen Verband anlegte, heulte der Wind so laut, dass sie Kamid kaum verstehen konnte.
Als sie fertig war und sich vergewissert hatte, dass die junge Mutter ihre Tabletten nahm, sah sie sich das Baby an. Es war alles in Ordnung, das Stillen klappte problemlos, wie die zarte Frau ihr stolz demonstrierte.
Nachdem alles erledigt war, verabschiedete sie sich und ging nach draußen. Kamid wartete schon, einen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht.
„Was ist los?“
„Siehst du das nicht?“
Sie stand noch unter dem Vordach und nahm erst jetzt die dicke Staubwolke wahr, die hinter der Zeltwand über den Boden hinwegfegte.
„Der Sturm?“
„Genau! Heute Nacht können wir nicht mehr zurück.“ Er verschwieg, wie lange solche Stürme anhalten
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