Das Herz der Wueste
Kamid?
Wer auch immer, sie war dankbar, dass sie es nicht selbst holen musste. Rasch zog sie sich aus, stellte sich auf ein Handtuch, benetzte die Haut und seifte sich von oben bis unten ein. Zarter Rosenduft umhüllte sie und weckte auch die letzten Lebensgeister. Nach drei Jahren bei Aid for All hatte sie gelernt, sich praktisch in einer Pfütze zu waschen. Sie spülte den Schaum vom Körper und trocknete sich ab.
Und jetzt die Frage aller Fragen – was sollte sie anziehen? Die lange Tunika, die sie über der Hose trug, war zu eng, jedenfalls wenn sie, wie letzte Nacht, in den Bergen herumklettern musste. Sie einfach wegzulassen und in Jeans zu gehen, war undenkbar, wenn sie sich den strengen Sitten des Landes anpassen wollte.
Jenny klappte ihren Koffer auf. Nach einigem Suchen fand sie zuunterst einen langen Rock, den sie auf einem Markt in Kolumbien gekauft hatte. Er war schlicht schwarz und nur unten am Saum mit einem breiten perlen- und litzenbesetzten Band verziert.
Mit einer schwarzen langärmeligen Bluse und einem Tuch um den Kopf würde sie beinahe aussehen wie eine Wüstentochter. Nun ja, nicht ganz …
Sie zog sich an und bürstete sich die Haare, strich gleichmäßig durch die langen, seidigen Strähnen. Ich sollte es wirklich abschneiden, dachte sie nicht zum ersten Mal. Und auch diesmal endete ihr stummes Zwiegespräch mit einem Nein. Die Haare, die sie seit dem Unfall hatte wachsen lassen, waren Symbol für Leben, ihr neues Leben.
Kamid wartete draußen, und einen winzigen Moment lang glaubte sie, Bewunderung in seinem Blick zu lesen, aber er sagte nichts, sondern nickte ihr nur zu.
„Ich habe etwas Brot und Wasser in meinem Rucksack“, sagte er, während sie zu der verabredeten Stelle gingen, „obwohl ich vermute, dass sie uns zu essen anbieten werden, wenn wir um diese Zeit kommen.“
Allerdings schien er nicht bei der Sache zu sein, und als er schließlich stehen blieb und das Lager betrachtete, ehe er zum Himmel hinaufsah, fragte sie: „Was ist los, Kamid?“
„Es zieht ein Sturm auf.“ Er setzte seinen Weg fort, und Jenny blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Verwundert schaute sie nach oben. „Ich sehe keine Wolken“, antwortete sie, sobald sie ihn eingeholt hatte.
„Und was siehst du?“
„Der Himmel ist dunstig.“ Fahles, verhangenes Weiß hatte das strahlende Blau verschluckt. „Ähnlich wie bei uns im Sommer. Ist es das Gleiche?“
Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein Dunst, sondern Staub.
Dahinten braut sich ein Sandsturm zusammen.“
„Davon habe ich gehört, aber das macht doch nichts, oder? Wir sitzen im Wagen und kommen bestimmt sicher hin und wieder zurück.“
Kamid lächelte. „Bei einem Sandsturm sind Scheibenwischer nutzlos, und der feine Sand kann in kürzester Zeit den Lack vom Wagen schleifen. Mit solchen Stürmen ist nicht zu spaßen.“
Jenny blickte sich wieder um, der Himmel schien sich nicht verändert zu haben. Sie wollte gerade fragen, was ihnen schlimmstenfalls passieren könnte, als sie die Lagergrenze erreichten.
„Sieh mal, Kamid, da ist unser Führer.“ Erleichtert packte sie ihn am Arm. „Ich hatte mir schon Sorgen um ihn gemacht, dass man ihn auspeitscht oder ihm die Hände abgehackt hätte oder sogar noch Schlimmeres.“
„Die Hände abgehackt?“, wiederholte Kamid, blieb stehen, drehte sich um und starrte sie an.
„Aisha erwähnte so etwas.“ Jenny strahlte ihn an. „Bitte sag ihm, wie froh wir sind, ihn zu sehen, und frag ihn, ob es ihm und seiner Familie gut geht. Nicht auszudenken, wenn sie unseretwegen irgendwelche Probleme bekommen hätten.“
Kamid übersetzte offenbar, denn der Mann mit dem schwarzen Turban verbeugte sich und lächelte Jenny an. Dann ging es anscheinend um den drohenden Sandsturm, da die Männer zum Himmel zeigten.
Jenny setzte sich in den Wagen und hielt die Tasche, die man ihr mitgegeben hatte, auf dem Schoß. Sie enthielt Geschenke, zusammengetragen von den Frauen im Lager, nachdem sie von der Geburt des Babys gehört hatten. Es gab unter anderem ein entzückendes Paar winziger bestickter Pantoffeln.
Verwundert hatte Jenny gefragt, warum die Flüchtlingsfrauen dem Kind eines Stammes, der sie aus ihrer Heimat vertrieben hatte, Geschenke machten. Marij lächelte und antwortete, das Baby könne nichts dafür. „Ein neues Leben, unschuldig. Es hat mit den Kämpfen nichts zu tun.“
Als sie jetzt an das Gespräch dachte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Was war bloß los mit ihr,
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