Das Herz des Jägers
zu spät kam, niemals krank war, er hat nicht getrunken und auch keine Drogen genommen. Frauen? Tiny ist ein Mann. Er hat seine Bedürfnisse, und die Mädchen waren verrückt nach ihm, die ganz jungen liefen geradezu hinter ihm her, sie verfolgten ihn mit wildem Verlangen. Es gab jedoch niemals Probleme. Ich kann Ihnen sagen, sein Körper war bei der Arbeit, aber sein Geist war anderswo.«
Orlando Arendse schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich erzähle Ihnen mal die Geschichte von den Franzosen. Eines Tages spazieren wir durch die Stadt, unten in St. George’s, und da sind diese Touristen – Franzosen. Sie stehen da mit ihrer Karte und fragen sich, wo sie sind, sie rufen mich in ihrem schlechten Englisch zu sich, sie suchten nach irgend etwas. Plötzlich fängt dieser große schwarze Tiny an, französisch zu quatschen, daß man es kaum glauben kann. Direkt vor meinen eigenen Augen verwandelte er sich in einen anderen Menschen, sein Körper war anders, sein Blick war anders, er sprach eine andere Sprache, er stammte aus einem anderen Land. Auf einmal war er lebendig, sein Körper und sein Geist waren gleichzeitig an einem Ort.«
Diese Erinnerung ließ ihn lächeln. »Sie hätten ihre Gesichter sehen müssen. Die Touristen umarmten ihn beinahe, sie zwitscherten wie die Vögelchen. Und als wir weitergingen, fragte ich ihn: ›Was war das denn?‹, und er sagte: ›Mein voriges Leben.‹ Mehr nicht, aber er sagte es mit einer Sehnsucht, die ich heute noch spüren kann, und da wurde mir klar, daß ich ihn nicht kannte und niemals kennen würde. Möchten Sie noch Tee?«
»Vielen Dank«, sagte sie, und er schenkte ihr nach. »Und dann hat er bei Ihnen gekündigt?«
Orlando Arendse trank seinen Kaffee aus. »Tiny und ich hatten Respekt voreinander. Wir sahen einander in die |221| Augen, und ich darf Ihnen sagen, das passiert in meinem Geschäft nicht oft. Teil dieses Respekts war, daß wir beide wußten, daß der Tag kommen würde.«
»Warum ist er gegangen?«
»Warum? Weil die Zeit gekommen war, das ist wahrscheinlich die einfachste Antwort, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Sache ist die: Ich habe ihn ausgeliehen, direkt bevor er aufgehört hat. Lange Geschichte. Es war letztlich aber auch nur eine geschäftliche Transaktion. Es gab eine Schießerei und eine Prügelei. Tiny landete im Krankenhaus. Als er wieder herauskam, sagte er, er sei fertig.«
»Ausgeliehen?«
»Darüber kann ich nicht mehr sagen, meine Liebe. Da müssen Sie Van Heerden fragen.«
»Van Heerden?«
»Zatopek van Heerden. Ehemaliger Polizist, ehemaliger Privatdetektiv, jetzt ist er eine Art Psychologieprofessor an der Universität.«
»An der Universität Kapstadts?«
»Der Herr arbeitet auf rätselhafte Weise,
verstaa’ djy
«, sagte Orlando Arendse mit einem Funkeln in den Augen und winkte dem Kellner, die Rechnung zu bringen.
Vincent Radebe schloß die Tür des Verhörzimmers hinter sich. Miriam Nzululwazi stand vor dem Einwegspiegel, die Stirn stark in Falten gelegt.
»Wann kann ich nach Hause?« fragte sie auf Xhosa.
»Warum setzt du dich nicht, Schwester.« Sanft, freundlich, ernsthaft.
»Kommen Sie mir nicht mit ›Schwester‹.«
»Ich verstehe.«
»Sie verstehen gar nichts. Was habe ich getan? Warum haltet ihr mich hier fest.«
»Um Sie und Thobela zu schützen.«
»Sie lügen. Sie sind ein Schwarzer und lügen Ihre eigenen Leute an.«
|222| Radebe setzte sich. »Bitte, Ma’am, lassen Sie uns miteinander reden. Bitte.«
Sie wandte ihm den Rücken zu.
»Ma’am, von all den Leuten hier bin ich wahrscheinlich der einzige, der glaubt, daß Thobela ein guter Mensch ist. Ich glaube, ich verstehe, was geschehen ist. Ich bin auf Ihrer Seite. Ich muß doch irgend etwas tun können, damit Sie mir glauben.«
»Allerdings. Lassen Sie mich gehen. Ich verliere meinen Job. Ich muß mich um mein Kind kümmern. Ich bin keine Verbrecherin. Ich habe niemals irgend jemandem etwas getan. Lassen Sie mich gehen!«
»Sie werden Ihren Job nicht verlieren. Das verspreche ich Ihnen.«
»Wie wollen Sie das hinbekommen?«
»Ich werde mit der Bank sprechen, es ihnen erklären.«
Sie wandte sich um. »Wie kann ich Ihnen glauben?«
»Ich sage es doch. Ich bin auf Ihrer Seite.«
»Das ist genau das, was die weiße Frau auch gesagt hat.«
Mentz hat recht, dachte Radebe. Es war nicht einfach. Er hatte sich bereit erklärt, mit ihr zu reden. Es gefiel ihm nicht, daß sie hier war, daß man sie festgenommen hatte. Er empfand
Weitere Kostenlose Bücher