Das Herz des Jägers
abzuholen. Heute jedoch würde er nicht wissen, was schiefgegangen war, die anderen Kinder würden abgeholt werden, eines nach dem anderen, außer ihm. Sie konnte ihn vor sich sehen, sie konnte die Angst ihres Kindes spüren, und es brach ihr das Herz. Nach und nach schloß ihr Schluchzen auch das Ende ihres bisherigen Lebens mit Thobela ein, die Liebe, die Sicherheit an jedem Tag, die Vorhersehbarkeit eines Mannes, der Abend für Abend nach Hause kam und sie in die Arme nahm und ihr seine Liebe erklärte. Er und ihr Sohn im Gemüsegarten hinter dem Haus, der riesige Mann kauerte neben dem kleinen Jungen, eng beieinander, Pakamiles offene Heldenverehrung. Der Verlust der Abende, an denen sie in der Küche saßen, er mit den Büchern, aus denen er lernte, in denen er mit einer Gier und Entschlossenheit las, die beinahe erschreckend war. Sie hatte dort gesessen und ihn beobachtet, diesen großen, liebenswerten Mann, der dann und wann aufschaute, wenn er etwas Neues gelernt hatte, und sagte: »Wußtest du eigentlich …«, und dann tat er seine Verwunderung über die neue Welt kund, die er entdeckte. Sie wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich vor ihm zu Boden geworfen und gesagt: »Du kannst doch gar nicht wahr sein.« Wenn sie im Bett lagen und er seinen Arm über sie legte und sie besitzergreifend eng an sich heranzog, beschrieb seine Stimme weite Wege. Er teilte mit ihr, was ihn in seinem Herzen bewegte, so viele Dinge, die Zukunft, sie drei, ein neuer Anfang auf einer Farm, die auf sie wartete, grün, fruchtbar und wunderschön. Und das Land, die Politik und die Menschen, seine oft amüsanten Beobachtungen bei der Arbeit, seine Sorge über Gewalt und Armut in den Townships, das Verschwinden der Xhosa-Kultur im Treibsand des Möchtegern-Amerikanismus. Und manchmal, in den Augenblicken, bevor sie einschliefen, erzählte er von seiner Mutter und seinem Vater. Daß er sich wünschte, Frieden zu schließen, daß er Buße tun wollte, und jetzt weinte sie, weil das alles vorbei war, vorüber, verloren – nichts würde sein, wie es gewesen war.
Das Schluchzen ließ sie erbeben, ihre Tränen durchnäßten |263| den Sitz des Sessels. Schließlich beruhigte sie sich, sie war leer geweint, aber eines blieb ihr – der Drang, hier herauszukommen.
Miriam wußte nicht, warum sie aufstand und versuchte, die Tür zu öffnen. Vielleicht hatte ihr Unterbewußtsein das Geräusch des Schlüssels nicht registriert, als der Mann gegangen war, vielleicht war sie auch nur vollkommen verzweifelt. Als sie die Klinke drückte und die Tür nachgab, war sie erschrocken und zog sie sofort wieder zu. Sie ging zurück und setzte sich auf den Sessel, auf die Kante, und sie starrte die Tür an. Ihr Herz schlug wie wild, als ihr die Möglichkeiten klar wurden.
Allison saß auf der Veranda des kleinen weißen Hauses mit dem grünen Dach auf einem grünen Plastikstuhl Dr. Zatopek van Heerden gegenüber. Sie war fasziniert von seinem schlanken Körper, seinem intensiven Blick und der Energie, die ihm innezuwohnen schien wie eine zusammengedrückte Sprungfeder, und da war noch etwas Undefinierbares, undeutlich und doch so eigenartig bekannt.
Es war heiß, und das Licht ging sanft vom Nachmittag in den Abend über. Er trank ein Bier, sie Wasser, in dem Eiswürfel klimperten. Er hatte sie nach allem ausgefragt, was sie wußte, er kreiste wie ein Falke über ihren Worten, er stürzte sich sofort auf irgendwelchen Unsinn, und nun, nachdem er ihre Geschichte chronologisch erfahren hatte, fragte er: »Was jetzt? Was wollen Sie?«
Die Intensität seines Blicks verunsicherte sie – er schaute tief in sie hinein, seine Augen standen nie still, sein Blick wanderte an ihr auf und ab, er suchte und maß, schätzte sie ein. Konnte er mit Hilfe seiner psychologischen Ausbildung die Strömungen ihrer Stimme und die verräterischen Feinheiten ihrer Körpersprache zu einer Summe ihrer Gedanken addieren? Hinzu kam diese eigenartige Erotik, die er ausstrahlte und die eine unwillkürliche Antwort tief im Inneren ihre Körpers auslöste.
|264| »Die Wahrheit«, sagte sie.
»Die Wahrheit.« Zynisch. »Glauben Sie, es gibt so etwas?« Er schaute nicht weg, wie andere Menschen es taten, wenn sie sprachen. Sein Blick haftete auf ihrem Gesicht. Was war es, was spürte sie da?
»Die Wahrheit ist selten eindeutig festzustellen«, gab sie zu.
»Mein Problem«, sagte er, »ist die Loyalität. Thobela Mpayipheli ist mein Freund.«
Vier
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