Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
Vom Netzwerk:
Geirþrúður fertigzumachen, wäre es eine Gnade, dich zu erschießen. Erst dich, dann mich.
    Hör mit dem Gerede auf, hat Helga gesagt. Uns fällt schon etwas ein.
    Etwas – manchmal taugt das Wort überhaupt nichts.
    Er muss anhalten. Nicht weil er völlig erschöpft wäre, aber ganz schön außer Atem ist er schon, und außerdem muss er pinkeln, und zwar dringend, er hat vor dem Laufen vergessen, auszutreten. Es dauert aber, bis man atemlos nach einem wuterfüllten Lauf pinkeln kann, und so steht er breitbeinig da und wartet, macht die Augen zu, hört nichts, bis auf den eigenen pochenden Herzschlag und das rauschende Blut. Geschützt vor der Welt steht er mit geschlossenen Augen unter einem Überhang und hört das eigene Blut, das ihm etwas von Geirþrúður erzählt, von Friðriks gestriger Drohung, von Angst und von Wut. Er öffnet die Augen. Es ist schön hier, Gras, Wiesenhöcker, Windschutz. Ein schwerer, sprudelnder Strahl legt das Gras nieder, und ein warmer Uringeruch steigt auf. Der Puls beruhigt sich, aber sein Blut rauscht noch so laut, dass er den Hufschlag im weichen Gras nicht hört.
    Das Pferd schwitzt, Ragnheiður ist schnell geritten. Das war ein Anblick, sie in vollem Galopp aus dem Ort sprengen zu sehen! Ihr Gesicht war sehr angespannt, sie trug ein hellblaues Kleid und weiße Spitzenhandschuhe, aber nichts auf dem Kopf. Und sie saß auf dem Rappen rittlings wie ein Mann oder wie Geirþrúður, da sah man schon, welchen schädlichen Einfluss sie ausübte. Ragnheiður achtete so wenig auf ihre Umgebung, dass einige sich mit einem Sprung zur Seite retten mussten.
    Sie ist zornig, unsere Kaisertochter, sagte jemand und stand von der staubigen Straße auf, sah der vornübergebeugt im Sattel Sitzenden nach, die sogar das Haar wehend offen trug. Es sah aus, als würde sie in den Krieg ziehen.
    Der Junge schaut nach unten und spürt dann etwas in der Luft, hört vielleicht das Pferd, als es sich leicht schüttelt, als Ragnheiður absteigt, als ihre schwarzen Stiefel das Gras niedertreten. Der Abstand zwischen ihnen beträgt kaum mehr als drei, vier Meter, sie sieht ihn an, rot im Gesicht nach dem Gewaltritt, das Haar fällt ihr über die Schultern. Sie sagt nichts, sieht ihn bloß an, schaut ihn von der Seite an und schaut hin. Er hat endlich sein Wasser gelassen, steht aber noch unverändert und wie erstarrt da. Er wollte die letzten Tropfen abschütteln, wie er es immer tut, gründlich und sorgfältig, sonst gehen diese letzten Tropfen in die Hose. Oft genug war er für diese Zimperlichkeit gehänselt worden, selbst Bárður hatte den Kopf geschüttelt, und daher uriniert er meist allein, geht dazu abseits, pinkelt und schüttelt, bis kein Tropfen mehr kommt. Jetzt aber wurde ihm dabei zugesehen. Noch dazu von einer Frau. Von der, die ein Bonbon angeleckt und es ihm dann in den Mund geschoben hat und die anschließend im Traum nackt zu ihm gekommen ist, sodass er sich hinterher in den Keller schleichen musste, um seine verklebte Unterhose auszuwaschen. Später hat sie ihn einmal geküsst, und ihre Lippen waren heiß und feucht. All das fällt ihm ein. Sein Blut erinnert sich in einem Explosionsblitz, und etwas davon fließt in sein Glied, das sich leicht versteift, nicht viel, aber doch ein wenig, nicht zu übersehen.
    Wie lange bleibt der Junge so stehen?
    Und wie lange schaut sie hin?
    Das Blut hat seinen eigenen Willen, sein eigenes Gedächtnis, und seine Erinnerungen haben ihn gelähmt, ihn zu einem Sinnenwesen gemacht, das nur noch an ihre Zunge, den Kuss und die harten Brüste denkt, die sich unangenehm deutlich unter dem Hemd abzeichnen, vielleicht ist es auch eine Bluse, er weiß es nicht, und dann fallen ihm Friðriks Worte vom Vortag wieder ein, die Brutalität, die in ihnen steckte, das Eisen, das gebogen, zermalmt, vernichtet, erschreckt werden sollte, und das erreichten sie auch, doch zugleich weckten sie Trotz, Wut, Hass, der heiß lodert, gefährlich heiß. Das Blut hat seinen eigenen Willen, und da steht der Junge unter dem Überhang, hat gerade gepinkelt und die Hose noch heruntergelassen, und Ragnheiður sieht zu, und es erinnert sich weiterhin, und es peitscht ihn weiter an und dehnt den Augenblick ins Unendliche. Auch Álfheiður hat ihn geküsst, als er zwischen verschiedenen Welten dämmerte, sie hat sich in der Kirche dicht neben ihn gesetzt, er erinnert sich noch gut an die Hitze, die von ihrem Schenkel ausging, und so saßen sie dicht beisammen, während die Hunde es vor

Weitere Kostenlose Bücher