Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
stramm an, und das reicht, damit die meisten Männer die Kontrolle über ihre Augen verlieren, manchmal sind sie so leicht zu überwältigen. Gunnar, Verkäufer und Schnurrbartträger, war nicht geladen, natürlich nicht, aber er hatte sie in dem Kleid sehen dürfen. Er stand im Laden wie ein Gespenst, wie eine gespannte Saite, und guckte sie an. Zu Hause hatte er es nicht ausgehalten, war ins Geschäft gegangen, hatte eine Beschäftigung gesucht, hatte probiert, sich mit Arbeit abzulenken.
Geh und lobe ihn mal, hat Friðrik seiner Tochter gesagt, und darum ging sie so hinüber, in dem roten Kleid, rot wie der Wahnsinn. Sie trat ein, und Gunnar wurde schlagartig zu einer zitternd gespannten Saite.
Ich soll dich loben, sagte sie, und ihre Lippen waren rot.
Und ob ihre Lippen rot sind, denkt Gísli drinnen im Hotel. Er lehnt sich an eine Säule, mischt sich nicht unter die schwatzende Menge, möchte etwas trinken, noch lieber aber zu Hause sitzen, die Gardinen vorgezogen und ein Buch, ein eigenes Universum, auf dem Schoß. Er sieht seine Nichte mit einem Lächeln durch den Raum schweben, das nicht frei von Hochmut ist. Das Kleid ist mit dem Dampfer gekommen, Maßanfertigung.
Das ist draußen in der Welt der letzte Schrei, lässt Ragnheiður die Frauen wissen. Kennt ihr Worth nicht? Der hat die besten Schnitte. Wer in London und Paris auf sich hält, trägt Kleider von ihm.
Beinahe hätte Ragnheiður dem Ehrengast des Abends, dem Grund für das Fest und Schutzherrn des Ortes, die Schau gestohlen. Es ist windstill, die Berge dunkeln im Lauf des Abends um eine Nuance, und das Meer ist so glatt, dass einige der Ertrunkenen an die Oberfläche steigen und dort treiben wie Schaum oder mysteriöse Quallen, sie träumen ihre salzigen und schmerzlichen Träume, und die Abstände zwischen den Sternen sind die unsichtbaren Türen zum Himmelreich.
Auf dem Fest gibt es keine geheimnisvollen Quallen, Friðriks Frau Anna spielt auf dem Klavier, das sie vor Tagen ins Hotel hat schaffen lassen. Unverzeihlich, dass Teitur und Ásgerður kein vernünftiges Instrument gekauft haben, nur den alten Klimperkasten, auf dem Hulda manchmal für sich selbst spielt. Anna spielt im großen Salon, wo Bjarnis Gemälde von Tryggvis Schiffen die Wände zieren. Wie viele es sind, und alles Prachtstücke. Tryggvi freut sich sehr, und keiner sagt ein Wort, während der Kaufmann mit Friðrik, Séra Þorvaldur und zwei wichtigen Kapitänen von Bild zu Bild geht und sie eingehend daraufhin betrachtet, ob auch jedes Detail richtig dargestellt ist und nichts fehlt. Bjarni besteht die Inspektion mit Glanz und Gloria.
Man spürt geradezu die Decksplanken, sagt Tryggvi, und mit diesen Worten im Kopf wird Bjarni am nächsten Morgen aufwachen, mit diesem Lob aus dem Mund von Tryggvi höchstselbst, dass er die Prüfung mit Auszeichnung bestanden habe. Sieh zu, dass du mit deinen Utensilien zur Neðribryggja kommst, und mach eine Skizze vom Dampfschiff; in zwei, drei Tagen legt es ab, du Glückspinsel! Noch aber ist dieser Tag nicht angebrochen, erlauben wir dem müden Bjarni also weiterzuschlafen, lassen wir ihn sich darauf freuen, die Sommerhelligkeit zu malen, die das Dampfschiff ihm nehmen wird.
Nach dem Essen nimmt Anna noch einmal am Klavier Platz und spielt Mozart, und der Klang des Pianos dringt bis in den Keller hinab und in das Zimmer von Snorri dort unten. Mit dem wenigen, das er mitnehmen durfte und wollte, hat er sich da eingerichtet; viel ist es nicht. Wozu auch Dinge aus einem gescheiterten Leben mitnehmen? Er sitzt in einem abgetragenen Seidenschlafanzug im Bett, Bilder seines Sohns auf dem Tisch, ein paar Bücher, ein kniehoher Stapel mit Notenheften und eins davon auf dem Schoß, Chopins Nocturnes , jetzt aber lauscht er mit halb geschlossenen Augen auf Mozart von oben, seine Lider zucken jedes Mal, wenn Anna dem Komponisten nicht folgen kann, und so sitzt er, als Hulda eintritt. Sie hat leise und zögernd geklopft, und Snorri hat geantwortet, ohne es selbst zu merken. Zum Festessen brauchte sie nicht zu erscheinen, hat freibekommen, und jetzt steht sie auf einmal im Zimmer, relativ groß, ein bisschen hässlich, ziemlich unglücklich.
Entschuldigung, sagt sie.
Macht nichts, sagt er.
Entschuldigung, sagt sie noch einmal.
Nichts zu entschuldigen, sagt er.
Doch, dass ich hier so hereinplatze.
Ihre Augen sind sehr groß für ihr Gesicht, als ob sie nicht ganz in die Augenhöhlen passten. Vielleicht hat sie auch noch nie einen Mann im Bett
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