Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
und die Ereignisse in der Welt unterhalten. Der alte General schaut über die Landzunge, und er blickt Ragnheiður nach, die mit schnellen Schritten das Haus verlässt und erst an der Sjávargata anhält, unmittelbar vor dem Strand, und sich alle Mühe gibt, sich zu beruhigen, doch sie tritt ungeduldig von einem Fuß auf den andern, das Meer gluckert zu ihren Füßen, Eiderenten heben und senken sich auf den kleinen Wellen. Ragnheiður holt tief Luft, da nimmt sie jenseits des Wassers eine Bewegung wahr, kneift die Augen zusammen, und, ja, kein Zweifel, das ist der Junge. Er läuft und ist leicht zu erkennen, denn kein anderer rennt so, außer vielleicht um sein Leben, und selbst dann nicht so schnell und mit solcher Ausdauer. Ragnheiður guckt, ihre Hände öffnen und schließen sich, als wollte sie mit ihnen Atem holen.
Er rennt wie ein Schrei. Fliegen summen, Vögel singen, Kühe wedeln auf der Weide glücklich mit den Schwänzen, und er hat den Geschmack von Blut im Mund, als er an dem kleinen Hof vorbeikommt, wo der Hund Angst vor dem Stock hat, er läuft durch Nässe und Sumpfwiesen, macht keinen Umweg um sie herum, ist nass und bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt.
Was wird sie jetzt tun?, hat er gefragt, als Helga, ungewöhnlich spät, erst gegen sieben, nach unten kam. Er hatte schon Kaffee gemacht und ein Brot für Kolbeinn geschmiert, der mürrisch schweigend in seiner dunklen Welt verharrte. Sie waren am Vorabend außergewöhnlich lange aufgeblieben.
Ja, jetzt geht’s los, hatte Geirþrúður gesagt, als der Junge das Gespräch auf die Ankunft des Dampfers brachte, aber über Friðrik und seine Drohungen kein Wort verlor.
Was geht los?, hatte er gefragt.
Geirþrúður lächelte bloß, ihr weißer Hals war weich, die Haut vielleicht eine Spur trocken, bekam die ersten Falten, denn ungeküsst altert Haut schnell.
Wenn doch mehr so wären wie du, sagte sie, und Kolbeinn schnaubte.
Schnaub du nur, du alter Hund, sagte sie und lächelte immer noch.
Manchmal hat man den Eindruck, du kapierst überhaupt nichts, sagte Kolbeinn zu dem Jungen. Du bist manchmal von einer solch heiligen Einfalt, dass es eine Wohltat wäre, dir den Gnadenstoß zu versetzen.
Genau deswegen ist er doch so kostbar, warf Geirþrúður ein.
Der Junge wagte nicht aufzublicken, wiederholte aber seine Frage: Was geht los?
Und er bekam seine Antwort, bekam von Geirþrúður zu hören, was Gísli ihm erzählt hatte, dass der Fisch von ihren Kuttern nicht mehr auf den Trockenplätzen des Ortes getrocknet werden dürfe, wenn sie nicht endlich von ihrem Hochmut und ihren verderblichen Sitten abließe, mit anderen Worten an Tryggvis Handelsfirma die Hoffnung und ihre Anteile am Kühlhaus verkaufte, Mitglied im Frauenverein »Eva« würde, regelmäßig die Kirche besuchte und – bald heiraten würde. Mit ihrer Lebensweise sei sie eine Gefährdung der Gesellschaft, ziehe die guten, alten Werte in den Schmutz, stifte Unordnung in den Köpfen junger Mädchen, gebe ihnen falsche Vorstellungen von ihrer Stellung und ihren Pflichten ein. Mit den Worten Friðriks: Wer die Regeln der Gesellschaft infrage stellt, untergräbt sie, und worin unterscheidet sich so jemand von einem Verbrecher?
Was wird sie jetzt tun?, hat der Junge gefragt, als Helga endlich nach unten kam.
Sie denkt nach, hat Helga geantwortet und mit Kaffee und einer Scheibe Brot ihren Platz am Kopfende des Tisches eingenommen.
Der Junge: Können sie …?
Helga: Sie beugen? Sie unterwerfen? An Macht und Willen dazu fehlt es nicht, die Frage ist nur, ob und inwieweit das mit ihren geschäftlichen Interessen zusammenfällt.
Warum lassen sie uns nicht einfach in Frieden?, hat der Junge gefragt. Warum darf sie nicht einfach auf ihre Weise leben?
Kolbeinn: Weil niemand aufrecht stehen darf. Weil sie Großkotze sind und es ihre Verdauung stört, wenn sie nicht alles bestimmen. Das ist eine Krankheit, und Geirþrúður irritiert sie.
Ihre Verdauung?, hat der Junge gefragt.
Kolbeinn: Am besten würde man sie erschießen und zu Köder zerhacken. Der Dorsch würde bestimmt bestens beißen. Diese Männer sind selbst gierig wie der Dorsch, sie schlucken alles, was nicht größer ist als sie selbst, sie sind nicht bei Sinnen. Du kennst den Dorsch.
Der Junge: Ich habe einmal hundertfünfzig Lodden im Bauch eines mittelgroßen Dorsches gezählt und zwei Steine.
Kolbeinn: Aus dir wird nie ein gescheiter Fischer, so viel steht fest. Wenn es diesen Größenwahnsinnigen gelingt,
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