Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
leicht an und lässt sich mit Wucht wieder fallen, da reißt etwas, er hört einen unterdrückten Schrei von ihr, in ihr reißt etwas, harte Fäuste trommeln ihm drei-, viermal auf den Brustkorb. Dann hebt sie den Kopf, stemmt sich vorsichtig höher, gleitet langsam wieder tiefer, doch der Widerstand ist verschwunden, und da verschwindet auch das Zögerliche. Sie bewegt sich, er blickt zur Seite, das Blut dröhnt in den Adern, und trotzdem guckt er zur Seite, sieht zwischen den Halmen und Grasbüscheln den Himmel, sieht das Pferd, hört, wie es Gras rupft, die Halme bewegen sich kaum, der Junge hört Ragnheiður keuchen, falls das Geräusch nicht aus ihm selbst kommt, das Blut schießt ihm durch den gesamten Körper, und dann fühlt er es kommen, fühlt es strömen, es ist, als würde er explodieren.
Da ist sie von ihm herunter.
Ganz schnell. Der Junge hat es kaum mitbekommen, er hat das Pferd angesehen und gerade angefangen, an den Jupiter zu denken, einen Planeten in sechshundert Millionen Kilometer Entfernung, aber sie sitzt schon nicht mehr auf ihm, sondern hockt auf allen vieren neben ihm, das Haar fällt ihr ins Gesicht, sie starrt zu Boden wie in Gedanken. Dann steht sie auf, knöpft die Bluse zu, er schaut ihr ins Gesicht, und es lässt sich nicht immer leicht sagen, was für ein Schmerz es ist, der uns zum Weinen bringt, ob es der Schmerz des Lebens ist oder ein körperlicher Schmerz.
XXV
Am nächsten Morgen wird er auf eine Reise geschickt.
Auf noch eine Reise.
Über Heiden und Berge, hinab in einen Fjord. Als hätte es das nicht zur Genüge gegeben.
Aber es ist ja Sommer, das wird eine leichte Reise, nur ein langer Spaziergang. Es wird auch guttun, wegzukommen, mehr als gut sogar, mit sich allein auf einer Hochheide zu sein, oben auf einem Berg. In der Bergluft denkt man klarer, betrachtet das Leben aus einer anderen Perspektive, ob es nun an der Luft liegen mag oder an der Abwesenheit von Menschen und Orten. Er wird mit einem Brief von Geirþrúður losgeschickt, adressiert an einen Kaufmann in einem Dreihundertseelenort im übernächsten Fjord, der Junge kennt ihn einigermaßen, er liegt in Richtung der Gegend, in der er nach dem Tod seines Vaters aufgewachsen ist. Er soll den Brief überbringen und auf eine schriftliche Antwort warten. Er kann den Weg an einem Tag schaffen, muss dann aber dort übernachten. Auch diesmal geht er nicht allein, allerdings ist nicht Jens sein Begleiter, denn den kann man nur schwer erreichen, und der erwartet einen Brief des Jungen: Lebst du noch, du Satansbraten? Und hast du noch alle deine Gliedmaßen? Schaffst du es, die Tage rumzubringen, ohne mich in der Nähe zu haben? Nein, es ist nicht Jens, sondern Snorri, ehemals Kaufmann, jetzt Obdachloser in einem Kellerloch im Hotel, dünn und blass. Es lässt sich kaum behaupten, sie seien gemeinsam unterwegs, jeder hält sich in seiner Welt auf, in seinen Erinnerungen, seiner Ungewissheit. Ásgerður, die Hotelchefin, ist zu Geirþrúður gekommen und hat gefragt, ob sie sich wohl den Jungen ausleihen dürfe, um Snorri zu jenem anderen Ort zu begleiten. Der ehemalige Kaufmann sei ein schlechter Wanderer, ungeübt, er würde sich verlaufen, und reiten wolle er unter keinen Umständen. Er hat kein Pferd mehr bestiegen, seit er damals in einem Stück in den Süden bis nach Reykjavík geritten ist, nur um festzustellen, dass seine Frau Ásdís Gott beträchtlich mehr liebte als ihn. Wie auch immer, Snorri soll in den anderen Ort gehen, um sich dort ein Harmonium anzusehen und es für das Hotel zu kaufen, wenn es ihm halbwegs brauchbar erscheint. Es geht nicht ohne Musik, ohne sie sind wir nicht viel mehr als Fische. Und wir können es uns absolut nicht leisten, einen Mann wie Snorri zu verlieren, setzte die Hotelchefin noch hinzu.
Nicht dass es mir leidtäte, hat Helga gesagt, aber Friðrik wird es nicht gefallen, Snorri weiterhin unter den Augen zu haben.
Die Musik ist mächtiger als Friðriks und Tryggvis Landhandel, gab Ásgerður zurück.
Es war ein Leichtes, den Jungen zum Mitgehen zu bewegen, und wie der Zufall es wollte, sollte er ohnehin mit einem Brief in diesen südlich gelegenen Ort geschickt werden. So marschieren Snorri und der Junge nun also ins Tungudalur hinein, selten gehen sie Seite an Seite, oft sind sie Dutzende Meter auseinander, der Junge, gedankenverloren, vergisst Snorri, vergisst den Zweck der Reise, den Auftrag; es tut einfach gut, unterwegs zu sein, zu spüren, wie das Gelände ansteigt, die
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