Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
eine Frau ist denn das, die einen Mann wie Pétur verlässt? Ich frage bloß, was muss das für eine Frau sein?
Was für eine Frau, was für ein Leben?
Pétur betritt mit müde gelaufenen Beinen die Schankstube. Es ist recht laut, er kennt einige der Gäste, grüßt aber keinen, sondern schaut sich ungeduldig nach Andrea um. Sag ihnen, du müsstest mal eben für eine halbe Stunde weg, sollte sie sagen. Letzte Nacht ist er so schlecht eingeschlafen, die Stunde in ihrem Kellerzimmer hat ihn nicht losgelassen. Andrea hat anders gerochen, sie hat ein neues Kleid getragen, sie war anders und doch dieselbe. Es hat endlos gedauert, bis er gestern Abend endlich einschlafen konnte, und beim Aufwachen am Morgen musste er gleich wieder daran denken, er hatte einen gewaltigen Ständer, als er im Zwielicht der Sommernacht aufstand. Elínborg lag wach und hat ihn sicher gesehen, aber da war nichts dabei, gucken durfte sie, er brauchte sich für seine Größe nicht zu schämen. Pétur streckt seinen langen Arm aus und legt ihn Ólafía auf die Schulter.
Wo ist Andrea?, fragt er.
Sie dreht sich um und sagt: Oh!
Minuten später verlässt Pétur den Ort.
Ólafía hat Helga geholt, die Pétur aufforderte, ihr zu folgen, sie führte ihn ins Haus, in einen unausstehlich feinen Salon, und da stand diese Geirþrúður und teilte ihm mit, Andrea sei fortgegangen. Oder so in der Art, er war nicht ganz bei sich und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen mit ein paar Zeilen, die Andrea in aller Eile geschrieben hatte, als wäre sie auf der Flucht.
Lieber Pétur, ich bin fortgegangen. Du bist kein schlechter Mensch, aber unser Zusammenleben ist vorbei. Ich kann mir nicht vorstellen, zu Dir zurückzukommen, dann würde ich Dich hassen, und mich auch. Das Leben ist zu kurz, um zu hassen. Hoffentlich findest Du eine andere, die besser ist als ich. Du kannst alles wegwerfen, was mir gehört.
Etwas in der Art. Er überflog es hastig, konnte sich kaum darauf konzentrieren. Er las es eilig, knüllte den Zettel zusammen, wollte ihn am liebsten in eine Ecke pfeffern, wagte es aber nicht.
Wohin ist sie gegangen?, fragte er.
Steht das nicht auf dem Blatt?, fragte Geirþrúður zurück.
Nein.
Nun, dann wird es einen Grund dafür geben.
Und damit zog er ab. Wie ein geprügelter Hund. Dabei ist Andrea doch seine Frau, sie hat kein Recht, sich so zu verhalten, so … widernatürlich. Er könnte zur Polizei gehen und sie suchen lassen, das ist sein gutes Recht. Stattdessen trollt er sich von dannen, läuft weg, flieht. Was werden sie jetzt über ihn lachen, dass er so was mit sich machen lässt, dass er ein solcher Schlappschwanz ist! Die Leute werden sagen, er hat’s nicht gebracht bei ihr. Wunderbar! Warum hat er nicht wenigstens gefragt, ob er mit dem Jungen reden kann? Der kleine Scheißkerl und Bárður waren doch schuld, dass Andrea den Kopf verloren hat. Bárður ist tot, aber seitdem ist es nicht besser geworden, ganz im Gegenteil. Er hätte nach dem Jungen verlangen sollen und ihn dann ordentlich durchprügeln!
Aber es bringt nicht viel, unten im Ort nach jemandem zu fragen, der sich oben in den Bergen herumtreibt.
Snorri und der Junge haben da, wo der Junge im sonnigen Gras wartete, eine Rast eingelegt.
Ich bin das überhaupt nicht gewöhnt, sagt der vormalige Kaufmann und macht eine ausladende Geste, die Wiese und Bach und Berge umfasst. Sie trinken kalten Kaffee aus einer Glasflasche, der Junge hat Proviant von Helga dabei, Snorri von Hulda. Ihre Hände haben diese Brote geschmiert, darum schmecken sie so gut, denkt der bankrotte Mann mit seinem gescheiterten Leben hinter sich. Ihre Hände, denkt er und beißt ins Brot, und es ist schön, sich umzuschauen. Sonne, und alles ist wunderschön unter diesem blauen Himmel, vor allem seit ihm der Junge gezeigt hat, wie man nasse, sumpfige Stellen erkennt und vermeidet. Seitdem sind seine Füße und die Socken trocken, alles ist gut, und dieses Land und dieser Tag sind so, als würde man ein eindringliches Stück von Mozart spielen.
Sie gehen in einen breiten und tiefen Fjord mit einer Unzahl von Tälern hinab, manchmal Seite an Seite, und Snorri erzählt dem Jungen von Mozart, stolpert dreimal über eine Bülte und wird genauso oft von dem Jungen aufgefangen, der zuhört und das Gesagte ebenso in sich aufsaugt wie die Melodien, die Snorri pfeift, wenn Worte sich in ihrer Unzulänglichkeit verheddern.
Der Tag schreitet fort, Snorri und der Junge kommen aus dem Fjord heraus auf
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