Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
die nächste Hochfläche, wandern jetzt schweigend, jeder mit seinen Gedanken, Sorgen, Wunden und unerwarteten Glücksmomenten beschäftigt. Ragnheiður wird also morgen oder übermorgen mit dem Dampfer auslaufen, der eine große Ladung Salzfisch an Bord haben wird. Sie fährt weg, und das ist gut so, das fühlt er jetzt und hier zwischen den Grashöckern ganz deutlich – er umgeht eine nasse Stelle, hilft Snorri heraus, der in ein feuchtes Loch getapst ist. Er denkt an sie, er lässt sie durch sich hindurchgehen, und was bleibt zurück?
Zu seiner Verwunderung ist es keine Wut, nicht einmal Zorn. Nein. Ist es Mitleid? Und vielleicht etwas Scham?
Er steht am Rand der Hochebene und blickt in den nächsten Fjord hinab. Da liegt der Ort mit jenem Kaufmann, für den er einen Brief von Geirþrúður in der Tasche hat. Er hört Snorri schnaufen, der wieder einmal den Anschluss verloren hat.
Es ist nicht mehr weit, sagt der Junge.
Nein, keucht Snorri.
Sie gucken eine ganze Weile, und der Himmel über ihnen ist wie ein blauer Flügel.
Ich habe gedacht, das Leben sei zu Ende, sagt Snorri, dabei hat es vielleicht noch nicht einmal angefangen.
Der Junge: Ich weiß nicht viel vom Leben.
Snorri: Wahrscheinlich muss man auch nicht viel vom Leben wissen, man muss nur mitten hineinsteigen und es nehmen, wie es kommt.
XXVI
Auf dem Weg nach unten sehen sie den Ort auf der anderen Seite des Fjords, aber sie verlieren ihn auch bald aus den Augen; der Fjord ist tief und gewunden.
Kaum unter vier Stunden, sagt der Junge.
Wie bitte?, ruft Snorri aus und versucht, im Hang nicht den Halt zu verlieren. Mit seinen Gedanken steckt er ganz im Kellerzimmer des Hotels. Großer Gott!, hat er in der Nacht gesagt, als ihm klar wurde, dass Hulda nicht nur Noten lesen konnte, sondern auch Chopins Nocturnes sofort erkannte, obwohl sie nur ein Bruchstück der Partitur gesehen hatte.
Wenn wir um den Fjord herumgehen, schaffen wir das kaum unter vier Stunden, eher fünf, sagt der Junge.
Bis dahin ist es Abend oder sogar schon Nacht, stellt Snorri fest.
Wenn wir rudern, schaffen wir es in einer Stunde, überlegt der Junge.
Dann finden wir eben ein Boot, verkündet der pleitegegangene Kaufmann. Und das tun sie, sie finden ein Boot. Zunächst steigen sie diagonal den Hang hinab in den Fjord, wo ihnen ein Geruch in die Nase schlägt.
Drecksnorweger, sagt der Junge.
Sie biegen nach rechts ab, der Fjordmündung zu und weg von der Walstation, die auf einer kleinen, in den Fjord vorspringenden Landzunge steht. Sie sehen die hohe Werkhalle gleich am Ufer, von der dicke Ketten ausgehen wie die Fangarme eines Seeungeheuers. Man benutzt sie, um die Kadaver in die Halle zu ziehen. Zweimal müssen sie verwestem Walfleisch und stinkenden Innereien ausweichen, die von Würmern wimmeln, und sie brauchen bis zu einer halben Stunde, um den Gestank und den Krach von der Fabrik hinter sich zu lassen, doch da wartet die Stille wieder auf sie, leises Wellengeplätscher, unter den Füßen knirschende Muschelschalen, niedriges Gestrüpp oberhalb des Strandes. Dann stoßen sie auf eine niedrige alte Fischerhütte, ein Vierruderer liegt am Ufer.
Müssen wir die ganze Strecke rudern?, fragt Snorri und schaut über den breiten Fjord zu der kleinen Ortschaft am gegenüberliegenden Ufer.
Weiter draußen weht ein frischer Wind, antwortet der Junge, da können wir segeln.
Sie haben Mühe, an die Tür zu gelangen, denn davor liegt ein großer Haufen Muschelschalen noch aus dem Frühjahr. Die Fischer haben die Muscheln anscheinend in der Hütte ausgenommen und die Schalen einfach vor die Tür gekippt, wenn es drinnen zu voll wurde. Das muss lecker gerochen haben, denkt der Junge und verzieht das Gesicht. Snorri klopft an.
Ein verschlafenes Gesicht erscheint in der Tür, neugierig und verärgert zugleich, es ist nicht schön, aus dem Schlaf gerissen zu werden. Schlaf und Erholung sind kostbar.
Euch übersetzen?, fragt das Gesicht. Warum, zum Teufel, sollten wir das tun?
Es gibt für alles einen Grund, erwidert Snorri ganz ruhig und findet einen stabileren Stand auf den Muscheln.
Es ist auch schön, sich die Fresse polieren zu lassen, sagt das Gesicht, guckt den Jungen dabei an und wird hellwach.
Das möchte ich bezweifeln, sagt Snorri.
Das Gesicht: Was?
Snorri: Dass es schön ist, sich verhauen zu lassen.
Wieso kann man hier nicht einmal in Ruhe schlafen!, ruft eine Stimme aus dem Inneren der Hütte. Darf man sich nicht mehr ausruhen?
Und eine weitere stößt
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