Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
ihn der Regen doch ein, er versank in wirre Träume und erwacht, als jemand leise ans Fenster klopft.
Es ist der Bursche aus der Fischerhütte, dieser Dreckskerl Jötnason. Er steht vor dem Fenster und winkt dem Jungen, nach draußen zu kommen, dazu legt er den Finger an die Lippen, um ihm zu sagen, dass er leise sein soll. Der Junge schleicht sich aus dem Zimmer und zur Haustür. Er erschrickt, als er dem Blick des langen Portiers begegnet, der in einem Sessel hängt und den Jungen schweigend beobachtet. Der will erst etwas sagen, erklären, weshalb er bei diesem Wetter mitten in der Nacht nach draußen will, obwohl er es im Grunde selbst nicht weiß. Den Langen scheint das aber nicht im Mindesten zu interessieren, er verhält sich völlig anders als am Tag, es gibt Menschen, die sind nachts ganz anders als tagsüber. Der Junge sagt am Ende nichts, sondern macht nur ein paar Gesten und Handbewegungen, die etwas erklären sollen, es aber ganz und gar nicht tun. Der Regen nimmt ihn ebenso in Empfang wie die Stille der Nacht und der Tabak Kauende, der sich wortlos zum Strand in Bewegung setzt und dem Jungen bedeutet, ihm zu folgen.
Was?, fragt der, aber der andere bringt ihn mit seiner Miene zum Schweigen. Am Ufer wartet das Boot.
Was?, setzt der Junge noch einmal an, doch der andere unterbricht ihn: Ich habe mit dir zu reden. Lass uns auf den Fjord rudern.
Damit macht er sich bereit, das Boot ins Wasser zu schieben. Da kommt dem Jungen irgendwoher aus dem Gedächtnis, aus der Erinnerung eine Eingebung zugeflogen.
Du bist Egill, sagt er zögernd, und als der andere nicht antwortet, sondern sich nur langsam aufrichtet, als hätte er Angst, zu zerbrechen, setzt er noch hinzu: Wir sind Brüder, ich meine, du bist mein Bruder!
Ja, sagt Egill endlich, und sie rudern auf den Fjord. Es ist dunkel von Regen und Nacht, und alles ist ruhig in der Windstille.
Diese offene Wunde im Dasein
Die Traurigkeit darüber, nicht ausreichend gelebt zu haben. Tot zu sein und nicht wegzukommen. Nicht aufhören zu können, an das zu glauben, was jenseits aller Entfernungen ist und was wir Gott nennen, Vergebung, Hoffnung. Die Traurigkeit darüber, dass es den Menschen weniger Kraft kostet, wegzusehen, als in dieser Welt der Unvollkommenheit für die Wahrheit einzutreten. Dass eine kleine Unannehmlichkeit im Alltag den Menschen dazu bringt, zu vergessen, dass anderswo auf der Welt Menschen gedemütigt, Hände abgeschlagen und Kinder vergewaltigt werden. Die Traurigkeit darüber, dass ihr Lebenden keinen Deut besser seid, als wir es waren, dass ihr euch nicht genug, manchmal fast gar nicht zur Wehr setzt, aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel, dass ihr euer Leben führen und es Glück nennen dürft, ohne dem Gewissen in die Augen zu sehen. Die Angst bei dem Gedanken, dass auch ihr eines Tages aufwachen könntet wie wir, als groteske Schatten zwischen Leben und Tod. Die Trauer darüber, wie gedankenlos ihr in euch die Beeren der Hölle aufsammelt und deren Gift erlaubt, in eure Blutbahn einzusickern: Vorurteile, Gier, Grausamkeit, Gewalt, Egoismus.
Fünf Wörter in einer Beere, fünf Wörter aus einer Wurzel.
Deswegen haben wir diese Geschichten erzählt.
Gleichwohl sind nicht sie es, die die Brücke hinüber zu Gott oder in das Land jenseits des Todes schlagen sollen, die dich aufrütteln und wecken sollen, sondern ebenso und nicht weniger unser Atem, das Schlagen des Herzens, das Rauschen des Bluts, nicht zuletzt unsere Furcht, Gewissensbisse, Lächeln, das Verlangen nach Glück. All das schleudern wir mit voller Kraft in die Welt der Unvollkommenheit.
Aber jetzt hören wir davon auf, von unserem Tod und unserem Lebenswillen, wir schließen das ab. Folgen wir dem Jungen, dieser offenen Wunde im Dasein.
Diese verteufelte Welt ist so lange
bewohnbar, wie du mich liebst
I
Ein fahrendes Schiff ist Musik. Die Hoffnung durchpflügt die See, im Fjord erreicht sie die spiegelblanke Fläche, doch weiter draußen ist das Meer bewegter, und es regnet. Du meine Güte, und wie es regnet! An einer Bergkette entlangfahren, die so abrupt abbricht, als würde das Land ins Meer stürzen, zwei Fjorde passieren und dann ins Djúp einlaufen. Besonders üppig ist der Fang im Laderaum der Hoffnung nicht, Jonni war so dumm, sich den Arm zu brechen, und darum mussten sie den Fisch für eine Weile Fisch sein lassen. Sie holten noch die Leinen ein, während Jonni rumjammerte, er hat noch nie Schmerzen oder Gefühle unterdrücken können, ebenso wenig wie er
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