Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
vermischte Wohltat in sich aufgehoben hatte.
Ich kann mich an so wenig erinnern, sagte er. Ich bin nicht einmal sicher, wie viele Jahre es her ist, seit Papa ertrunken ist. Sind es zehn oder …
Zehn? Es sind dreizehn! Ich erinnere mich nämlich an alles, sagte Egill fast vorwurfsvoll. Und ich wusste sofort, als ihr uns geweckt habt, dass du es warst. Ich habe dich sofort erkannt.
Ich erinnere mich nicht an die Ereignisse, aber ich erinnere mich an die Gefühle. Ich erinnere mich an deine Finger in meinen Haaren, wollte er noch sagen, ließ es aber.
Ich erinnere mich an alles, wiederholte Egill, diesmal leiser, blickte in den Regen und nahm einen Schluck. Er hatte die Geschichte von Bárður und dem Anorak gehört, in zwei Versionen, und dass anschließend jemand mit einem Buch über die Berge ins Tal gelaufen sei, mit einem Gedichtband, und da hatte er gleich gewusst, dass dieser jemand sein Bruder sein musste.
Ich hab das gleich gewusst, ich wusste immer, dass du genauso bist wie Mama und auch wie Papa mit diesem Spleen für Gedichte und mit verrückten Träumen. Du weißt ja, wie es ihnen ergangen ist. Du warst überhaupt ganz wie Mama, hingst ihr ewig am Rockzipfel, und sie hat dich kaum einmal losgelassen. Du musst dich vor diesem Teufelszeug in Acht nehmen!
Welchem Teufelszeug?, fragte der Junge und sah seinen Bruder an.
Vor diesem verfluchten Grübeln, vor den Büchern, der Scheißliteratur. Dieser Mist macht dich weich, du wirst zum Verlierer, aber man darf nicht nachgeben, nicht eine Daumenbreite!
Wem dürfen wir nicht nachgeben?
Allem, dem ganzen verdammten Scheiß. Man muss hart sein. Das ist das Einzige, was sie verstehen.
Nein, sagte der Junge leise und schlug die Augen nieder, um ihren Ausdruck zu verbergen.
Das Schlimmste ist, dass du nicht trinken willst, sagte der Bruder. Haben sie dich verprügelt, da wo du aufgezogen wurdest? Hast du genug zu essen bekommen? Sag mir nur Bescheid, wenn dich jemand triezt. Ich werde mir den Saukerl vorknöpfen. Ich bin durchgekommen, ich habe mich nie beugen müssen, ich kenne dieses gottverfluchte Leben.
II
Die Hoffnung segelt ins Djúp, der Junge ist bis auf die Haut durchnässt, und aus dem Laderaum steigt Bach, dringt durch die Decksplanken nach oben. Das Gesicht ist nass vom Regen, nicht von Tränen, dabei täte es gut, weinen zu können, dieses Bedrückende, diese Wunde, diese Verzweiflung loszuwerden. Endlich hat er seinen Bruder wiedergefunden, aber nur um ihn sogleich wieder zu verlieren. Sie haben sich am Ufer voneinander verabschiedet, im Regen dämmerte der Morgen nahezu unsichtbar, denn die Tropfen schienen das Morgenlicht zu Dämmerlicht zu zermahlen.
Die anderen Jungs und ich kommen bald in den Ort, um ein bisschen Spaß zu haben, hat Egill gesagt. Bei euch sollten wir das Bier doch billiger kriegen, du bekommst ja mit Sicherheit ein Deputat.
Der Junge hat bloß mit den Schultern gezuckt.
Wir wollen auch den kleinen Freund ein bisschen lüften, sagte Egill. Der ist nach dem Winter ganz schön hungrig geworden. Schließlich fickt man nicht den Dorsch, und die Weiber hier haben nur noch für die Scheißamerikaner Augen, nur die sind ihnen fein genug für ihre Mösen. Lass uns zusammen was unternehmen! Zwei Brüder auf Tour.
Dann ist das Boot mit ihm im Regen verschwunden. Der Junge stand lange am Ufer, die Tropfen zerplatzten auf ihm und tun es an Deck der Hoffnung immer noch. Das Antwortschreiben des Kaufmanns an Geirþrúður liegt in einem Päckchen unten im Logis, er kann ihr nicht beistehen, will es nicht, wagt es nicht; der Junge weiß es, braucht nicht etwa das Siegel zu erbrechen und den Brief zu lesen, um sich das denken zu können. Und was nun? Welche Möglichkeiten bleiben Geirþrúður noch? Wird vielleicht alles zerschlagen? Und was wird dann aus ihm, aus seiner Ausbildung?
Die Hoffnung gleitet langsam durch den Regen. Ragnheiður hat seine Brust mit den Fäusten bearbeitet, er ist in ihr gewesen, sie hat mit ihm geschlafen, ihn dann einfach stehen gelassen, und er hat sich erbrechen müssen. Schlägt dein Herz noch? Das hat eine andere in ihrem Brief gefragt, die, die an Jens und an einen Norweger denkt, beides groß gewachsene, kräftige Männer wie Brynjólfur, der in den Regen herauskommt, an die Bordwand tritt, sich schwerfällig darüberhievt und im Meer verschwindet.
Tryggvis Dampfer ist weg. Er fährt irgendwo unter dem weiten Himmel mit Kurs Kopenhagen auf dem offenen Ozean, mit einer Ladung Salzfisch und mit
Weitere Kostenlose Bücher