Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
je etwas Anständiges gekocht hätte, doch die Männer an Bord hoffen darauf, dass sich das durch den gebrochenen Arm bessern könnte. Die Orgel ist zwischen den Fischen sorgfältig verzurrt, und Snorri sitzt während der gesamten Überfahrt an ihr und spielt, er kann nicht anders, er kann nichts anderes, also füllt er dieses mit Fangglück gesegnete Schiff mit Bach. Der Junge lässt sich nass regnen, hört zu, wie sich die Tropfen auf seiner Stirn teilen, und lauscht der Musik, die durch das Deck nach oben strömt. Die Männer liegen oder sitzen in ihren klammen Kojen in der Kajüte und gucken leer vor sich hin, die Musik weckt Erinnerungen, füllt sie mit einer Sehnsucht, die sie nicht verstehen und die sie unglücklich und glücklich zugleich macht. Kunst ist gefährlich, sie kann Träume von einem besseren, gerechteren und schöneren Leben aufrühren, sie kann Gewissensbisse machen und unsere alltäglichen Abläufe bedrohen.
Dem Jungen macht es nichts aus, nass zu werden, es ist einigermaßen mild, wenn auch nicht warm, und insofern nicht ungefährlich, sich nass und ohne schützende Kleidung lange an Deck eines Schiffs aufzuhalten.
Willst du unbedingt krank werden, Junge?, fragt Brynjólfur, der zu dem Jungen nach draußen kommt und ihm unbeholfen den Arm um die Schulter legt. Der Schiffer riecht nach Schnaps. Im Ort kommt man leicht an Alkohol, er hat ihm geradezu aufgelauert.
Nein, sagt der Junge, ich gehe unter Deck, gleich. Er sagt es, ohne den Kapitän anzusehen, er guckt in den Regen, dorthin, wo das Land liegt, in Richtung der Fischerhütte, die sich irgendwo in dem dichten Regen verbirgt. Er hört, wie Brynjólfur wieder reingeht, nachdem er eine Weile neben ihm gestanden hat, einfach so, ohne Anliegen, stand er dicht neben ihm, als ob er auf etwas wartete.
Eine ähnliche Fahne hat der Junge bei seinem Bruder gerochen, als sie vom Land in das Halbdunkel des Regens ruderten. Sie ruderten auf den Fjord hinaus, bis sie die Gegenwart des Landes nicht mehr spürten.
So ist es gut, sagte Egill, zog sein Ruder ein und kletterte eine Ruderbank weiter.
Das Meer war so unbewegt, dass der Junge die Regentropfen einsinken sah. Egill reichte ihm einen Ölmantel, dann einen Kanister.
Trink, sagte er, das ist verdammt guter Stoff.
Der Junge zog das Ölzeug über, lehnte den Kanister aber mit einem Kopfschütteln ab. Seit dem Ablegen hatte er kein Wort gesagt.
Egill starrte seinen Bruder kurz an und brüllte dann in den Regen: Bist du so ein Waschlappen, dass du nicht trinkst?
Ich möchte nur jetzt nicht.
Warum nicht?
Weiß nicht.
Oder ist der Stoff etwa nicht vornehm genug für einen feinen Pinkel, der bei einer reichen Alten wohnt?
Ich trinke alles, erwiderte der Junge und richtete sich trotzig auf.
Na, dann trink doch!
Geirþrúður ist keine alte Frau.
Stell dich nicht so an! Ein Engel ist sie ja wohl auch nicht gerade. Die Leute sagen, sie kann ganz schön locker werden, wenn ihr einer gefällt. Die Geirþrúður … Schon gut, schon gut, unterbrach sich Egill, brauchst dich nicht aufzuregen. Aber du könntest wenigstens mir zuliebe einen Schluck trinken. Wir beiden Brüder sehen uns ja schließlich nicht alle Tage, wie?
Ich möchte jetzt nicht trinken, dann sehe ich vielleicht die Tropfen nicht mehr einsinken.
Egill hatte gerade den Kanister an die Lippen gesetzt, trank aber nicht, sondern setzte wieder ab, sah seinen Bruder an, guckte in den Regen und stieß einen Fluch aus. Da saßen sie, das Boot bewegte sich kaum, nur der Regen zwischen ihnen und die vielen Jahre, vielleicht mehr, als auszuhalten waren. Sie schwiegen, und die Rufe der Eiderenten waren eine seltsame Mischung aus Einsamkeit und Stille. Es war so lange her, seit sie im Bett der Eltern gelegen hatten, sie beide, Lilja und ihre Mutter. Es war die letzte Nacht der Welt, und am nächsten Morgen würde man sie auseinanderreißen. Der Junge war mit Egills Fingern in seinem Haar aufgewacht, denselben Fingern, die sich jetzt in diesem Boot um den Kanister schlossen, voller Schwielen und Risse. Dieselben? Oder kann sich ein Mensch so sehr verändern, dass er eigentlich stirbt, ausgelöscht wird, zu nichts wird oder, richtiger, zu etwas ganz anderem?
Du hast mich nicht erkannt, stimmt’s?, sagte Egill und lächelte oder grinste und setzte den Kanister wieder an den Mund.
Der Junge schaute weg, und ihm war, als würde er die Erinnerung an jene letzte Nacht verlieren, eine Erinnerung, die er wie etwas Tröstliches, wie eine mit Schmerz
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