Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
nichts mit Unterricht. Ich bin ein Feigling, ein Hund, der Platz macht, wenn man »Sitz!« zu ihm sagt, der sich wälzt, wenn er das Kommando dazu erhält, der ein Stöckchen aus dem Meer zurückholt, wenn der Richtige es geworfen hat. Was nützen Literatur und Bildung, wenn man keine Ehre im Leib hat?
Wahrscheinlich wird vom Jungen nicht erwartet, die Frage zu beantworten. Sie sind nicht im Unterricht, das ist kein Aufsatzthema, sondern das Leben selbst, und das erteilt keine Noten, verleiht niemandem ein Diplom.
Der Junge hat ein bisschen was getrunken, vier Bier, und die machen sich bemerkbar, der Nebel hat die ganze Welt verschluckt. Er brauchte im Haus nichts aufzuräumen, brauchte nicht in der Wirtsstube auszuhelfen, nicht zu putzen, nichts zu besorgen; er hätte natürlich weiter an seiner Übersetzung arbeiten können, hatte aber keine Ruhe im Leib.
Ich möchte mal nachsehen, ob im Hotel die Orgel schon aufgestellt ist, hat er gesagt, und Helga meinte: Tu, was du möchtest.
Was er möchte? Abgesehen vom Unmöglichen, davon, die Toten aufzuwecken, Friðrik fertigzumachen, Andrea Glück zu schenken, einen bösen Husten an der Winterküste zu kurieren, María an seinen Unterrichtsstunden teilnehmen zu lassen, wenn Gísli wieder Unterricht erteilen kann, wenn er wieder nüchtern ist, wenn er ihn weiter unterrichten darf, falls er nicht die Nase davon voll haben wird, ein Feigling und ein Hund zu sein, und von hier weggeht, flieht; vielleicht um anderswo ein Hund und ein Feigling zu sein.
Was er möchte – er hat einen Brief von María in der Tasche. Ein Blatt, das außen Umschlag, auf der Innenseite Brief ist. Wenige Sätze, nur so viele, wie auf die eine Seite passen. Es ist auch noch eher ein Zettel als ein Blatt Papier. Wo aber sollen wir unsere Sätze lassen, wenn wir kein Papier besitzen? Was wird aus ihnen, wenn wir in einem kleinen Grassodenhaus unter einer Felswand nah am Meer wohnen, wo es kein Papier gibt, wo es fast gar nichts gibt, bis auf den Kampf ums Überleben? Wenige Sätze nur, der Dank für die Bücher, wie gern sie sich mit ihm über sie unterhalten würde, wenn nur das Meer nicht dazwischenläge. Ich lese sie und plappere meinem armen Jón die Ohren voll. Hab vielen Dank, aber sag mir, wie viel ich dir schulde. In der Ecke ein paar kleine Kinderzeichnungen, alles neu, es lässt die Armut erkennen, aber auch Lebenshunger, ohne ihn ist der Mensch verloren. Der Junge blickt Gísli an, der greift in die Jackentasche, holt einen Flachmann heraus, gießt etwas ins Glas und zwinkert dem Jungen zu.
Dank für die Bücher, aber kein Wort, ob das kleine Mädchen noch lebt, wie schlimm der Husten ist. Hätte María nicht irgendetwas verlauten lassen, wenn das Schlimmste eingetreten wäre? Vielen Dank, ich genieße es, zu lesen, aber das Leben könnte doch besser sein – etwas in der Art vielleicht. Was er möchte? María schreiben. Sie fragen: Seid ihr alle am Leben? Sie fragen: Was hast du für Träume? Was er möchte? Sich den Kahn von Marta und Ágúst im Sodom leihen und wie ein Verrückter über den Dumbsfjörður rudern, so schnell, dass ihm die Haut und die über den Sommer weicher gewordenen Schwielen in Fetzen von den Händen hängen, zu den roten Haaren und den grünen Augen rudern. Rudern! Schön und gut. Aber wozu? Um sich eine Abfuhr zu holen? Du hier, würde sie erstaunt sagen, sie, die Jens liebt oder den Scheißnorweger, große Männer, die der Wind nicht so leicht umweht. Du hier? Ja, man hat mich hergeschickt, würde er antworten, Feigling, der er ist. Ich hatte etwas zu tun, ist jetzt erledigt, da wollte ich dir noch rasch für deine Briefe danken. Und dann würde er zurückrudern, nicht ganz so schnell, und es wäre ihm egal, wenn er vom Kurs abkäme, von ihm aus in einen Fjord, den es gar nicht gibt. Aber warum hat sie ihm einen Brief geschrieben, zwei sogar? Das Vernünftigste wäre natürlich, zurückzuschreiben und einfach zu fragen. Warum schickst du mir Briefe? Ich ertrage das nämlich nicht, du hast so rotes Haar, so grüne Augen. Ihr wohlüberlegt zurückschreiben, jawohl. Wäre doch vollkommen kopflos, allein in einem Kahn über einen Fjord zu rudern, der so breit ist, dass er eigentlich ein Ozean sein könnte, und das hinein ins Ungewisse, wahrscheinlich einer Abfuhr, einer totalen Niederlage entgegen.
Gísli greift sich wieder in die Jacke, angelt die flache Taschenflasche heraus, guckt gehetzt um sich und gießt noch einmal Whisky ins Glas.
Auf ex, sagt er,
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