Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
kaufen, vielmehr anschreiben, auf seine Schuldenrechnung setzen lassen. Der Junge sieht ihn lächelnd an, gänzlich unempfindlich gegen die Müdigkeit, die Resignation, das Trinken – drei Wörter für dieselbe Sache.
María an der Winterküste, sagt er.
Welche María?, fragt Gísli, und da erzählt der Junge von ihr. Zuerst will er nur sagen: Sie wohnt da und da, ich schicke ihr Bücher, und jetzt will ich ihr einen Brief schreiben, aber dann findet er plötzlich, dass sie mehr verdient, nämlich dass ihr Leben bekannt wird, dass er davon erzählt, von ihrem Kampf ums Leben, ihrem Hunger nach Büchern.
Jens und ich wären unterhalb ihres Hofs fast umgekommen, fängt er an und berichtet dann weiter, von dem Abend, der Nacht und dem Morgen auf diesem Hof, der damals unter seiner Schneelast begraben lag, jetzt aber daraus aufgetaucht ist und Licht und Sonne aufsaugt.
V
Lass mich nicht allein, sagt Gísli. Sie haben das Hotel verlassen. Der Junge hat seinen Brief an María geschrieben, Papier bekam er von Hulda, die er hinzugerufen hat, als sie anscheinend in den Keller gehen wollte.
Lass mich nicht allein, sagt Gísli noch einmal.
Ich will nur kurz ins Haus und Bescheid sagen, erklärt der Junge. Ich komme wieder.
Nein, nein, alle Menschen auf der Welt schlafen, und du findest durch den Nebel nicht den Weg und verirrst dich und landest in der Hölle, glaub mir, ich habe ein Spitzenexamen von der Universität Kopenhagen, verkündet Gísli, hält den Jungen aber sicherheitshalber am Ärmel fest, falls er einen Universitätsabschluss aus Kopenhagen etwa nicht gebührend berücksichtigen sollte.
Sie schlafen nicht. Bleib hier, ich bin gleich zurück.
Du findest nicht den Weg zurück, nicht in diesem Nebel, sagt der Rektor desperat und sucht in der Tasche nach seinem Tröster, aber der Flachmann ist leer, und das Gedichtbändchen, das er herauszieht, hilft nichts. Manchmal sind die besten und tiefsinnigsten Gedichte nichts anderes als nutzlose Worte auf Papier.
Der Junge hat recht, beide sind noch wach, sitzen im Wohnzimmer.
Ich bin leider ein bisschen betrunken, sagt er. Ich habe mit Gísli im Hotel gesessen und María an der Winterküste einen Brief geschrieben, einen langen Brief, währenddessen hat Gísli mit Ásgerður Schach gespielt, und Hulda habe ich gesehen, wie sie in den Keller ging, sie hat gelächelt, Snorri hat doch ein Zimmer im Keller, ich weiß noch, dass er oben auf den Bergen ihren Namen erwähnt hat. Gísli wartet draußen im Nebel auf mich, er möchte, dass ich mit ihm noch ins Sodom gehe.
Die Frauen blicken sich an. Geirþrúður ist barfuß. Wunderbar schöne Zehen hast du, hat ihr Kapitän zu ihr gesagt. Draußen in der Welt würdest du Preise und Medaillen für sie bekommen, du könntest Königreiche mit ihnen lenken. Ich bekomme nicht genug von ihnen. Beweg sie für mich, noch einmal, und sie tut es, bewegt sie jetzt im Zimmer, obwohl er gestorben ist und unter der Erde liegt.
Tut mir leid, dass ich nicht früher gekommen bin, sagt der Junge. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht eher Bescheid gesagt habe. War Kolbeinn böse, weil nichts aus dem Vorlesen geworden ist?
Er hat gemeint, er wird dir seinen Stock zu fühlen geben, sagt Geirþrúður, aber er hat schon größere Enttäuschungen durchgemacht, mach dir mal keine Sorgen deswegen. Du darfst wieder raus in den Nebel, und bleib unbedingt bei Gísli, aber trink nicht so viel! Wir wollen morgen früh aufbrechen, komm also nicht so spät nach Haus, wenn du dich noch ein bisschen ausruhen willst, und bring unbedingt Gísli mit, das ist wichtig.
Gísli, hierher?, fragt er verdattert. Aufbrechen? Wohin? Eine Reise? Etwa wir alle?
Ja, wir vier gehören doch zusammen. Ist dir das noch nicht aufgegangen? Dafür hat die Welt gesorgt, sie hat uns zusammengeführt.
Aber, sagt der Junge, aber, setzt er noch einmal etwas schwerfällig und beduselt an. Aber, sagt er zum dritten Mal und guckt dabei vor sich hin, als versuchte er konzentriert, sich an etwas zu erinnern. Diese Reise, sagt er schließlich, wird das eine lange Reise? Machen wir sie wegen Friðrik und Tryggvi, ist es ihretwegen, und fahren wir weit?
In Kilometern gezählt vielleicht nicht, antwortet Geirþrúður. Zahlen besagen nichts, wenn man etwas im Leben eines Menschen messen will. Aber es stimmt, wenn Friðrik und Tryggvi nicht wären, würden wir diese Reise nicht unternehmen. Ihre Namen und Personen finde ich allerdings nebensächlich, denn die Herrschenden werden von
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