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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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der Macht geschaffen, und die Macht von der Gewohnheit. Wir haben es daher mit etwas zu tun, was beträchtlich größer ist als diese Herren. Aber genug davon, es ist schon spät. Geh und bleib bei Gísli, aber komm nicht zu spät.
    Er läuft auf kürzestem Weg zum Hotel zurück. Gísli wartet an Ort und Stelle, exakt am selben Fleck.
    Das hier kannst du haben, sagt er und reicht dem Jungen ein schmales Bändchen. Gedichte von Hölderlin. Die sind nichts für mich.
    Die sind auf Deutsch, sagt oder fragt der Junge.
    Ja, wahrscheinlich, zumindest waren sie es letztes Mal, als ich hineingesehen habe.
    Ich kann kein Deutsch, sagt der Junge bedauernd, und das zu Recht, denn es ist traurig, keine Sprachen zu können.
    Dann ändern wir das, sobald ich von diesem elenden General loskomme und nicht länger Hündchen zu spielen brauche. Es ist unmöglich, anständig zu leben, ohne Deutsch zu können. Da ich ein Knabe war . Das Leben wäre einfach nur trostlos, wenn wir die Dichter nicht hätten, sagt Gísli, guckt mit wenig Hoffnung einen Moment in den Nebel und geht dann los, Richtung Sodom , dem Lokal von Ágúst und Marta, das offiziell Bifröst heißt, aber nie anders als Sodom genannt wird.
    Es kostet sie reichlich Zeit, das alte Viertel zu durchqueren, sie verirren sich sogar zweimal, obwohl Gísli das Viertel kennt wie seine Westentasche.
    Diese Nacht wird nicht gut enden, murmelt er und scheint noch mehr sagen zu wollen, doch da treffen sie auf drei Matrosen.
    Sieh da, Menschen, sagt Gísli überrascht. Drei Stück sogar. Und ich dachte, wir zwei wären allein auf dieser Welt. Was sucht ihr denn in diesem Nebel?
    Die Männer antworten nicht, es sind Matrosen von einem der Schiffe mit Deck, dieselben, die die Dänen vermöbeln wollten, es sollte ihr privater Kampf um die Unabhängigkeit werden. Der Junge schaut einem von ihnen flüchtig ins Gesicht, ansonsten blicken sie zu Boden oder in andere Richtungen, haben es eilig und sind verschwunden, ohne eine Antwort zu geben.
    Was ist das denn für ein Benehmen!, regt sich Gísli auf, der sich unterhalten, etwas fragen und einmal neue Stimmen hören wollte, aber sie sind schon verschwunden.
    Wozu solche Eile, es erwartet uns ja doch nichts anderes als der Tod am Ende des Lebens, ruft Gísli, geht weiter, dreht sich aber noch einmal um, als wollte er ihnen nachrufen: Denkt dran, dass der Mensch langsam gehen und nicht in dem Glauben fliehen soll, er könne entkommen. Man entkommt nämlich nicht, der Mensch … Mist!, ruft er, da er stolpert, über ein Bündel fällt und dann platt auf dem Bauch liegt wie eine traurige Robbe.
    Hat mich der Teufel zu Fall gebracht, sagt er in die Erde, aber der Junge kniet bei dem Bündel nieder, das sich als Svandís aus dem Armenhaus herausstellt, die sich zusammengerollt hat, als wollte sie zu einer Schnecke werden, und sich nicht einmal rührt, als Gísli über sie fällt.
    Svandís, sagt der Junge besorgt, und sie schlägt die Augen auf, zwei einsame Mondscheiben, und blickt den Jungen an.
    Mein lieber Junge, sagt sie in einem verzweifelten Tonfall, willst du etwa auch?
    Will ich was?, fragt der Junge, aber sie antwortet nicht, krümmt sich nur noch mehr und zuckt heftig zusammen, als er ihr kurzes Kleid zurechtzupfen will, das zerrissen und bis zu den Hüften hochgeschoben ist. Der Junge fühlt, wie es ihn kalt überläuft. Es ist so offensichtlich. Die Flucht der Männer im Nebel, wie sie daliegt, in welchem Zustand sie ist.
    Svandís, sagt er möglichst beruhigend, zieht dann hilflos noch einmal an dem gerissenen Stoff, sie zuckt wieder und rollt sich enger zusammen.
    Nicht, bettelt sie, bitte nicht.
    Ich möchte nur dein Kleid richten, ich …
    Du nicht auch, sagt sie leise verzweifelt.
    Der Junge schluckt und wagt nicht, sie noch einmal zu berühren, als ob er beschmutzt wäre, dann riecht er eine kräftige Fahne, als sich Gísli zu ihnen herabbeugt und Svandís zu weinen anfängt.
    Zieh meine englische Jacke über, Svandís, sagt Gísli, der sich nicht länger selbst bemitleidet. Er zieht die Jacke aus, und zusammen mit dem Jungen hüllt er Svandís darin ein.
    So ist es besser, du Ärmste, sagt der Schulleiter beruhigend und richtet sich dann auf, Svandís wie ein übel zugerichtetes, verängstigtes kleines Tier auf den Armen, doch in der teuren und feinen Jacke, die er erworben hat, indem er vor Friðrik kroch.
    Diese Jacke aus England gehört jetzt dir, hörst du, ja, der Fummel hier, er steht dir auch besser als mir.
    Svandís

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