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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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saufen wir die ganze Nacht! Es ist ein Vergnügen, mit einem jungen Mann zu trinken, der so voller Poesie steckt. Ich hätte nicht erwartet, dass mir das noch einmal widerfahren würde, habe nicht damit gerechnet, ihn ausgerechnet hier zu finden, ausgerechnet hier. So, los, leer jetzt dein Glas, jetzt wollen wir trinken und unseren Spaß haben und froh sein wie die Mäuse im Speck!
    Er leert sein Glas, einen guten Doppelten, in einem Zug, und stellt es dann ab.
    Jetzt wird’s lustig, sagt er, obwohl es gar nicht danach aussieht, als wäre ihm lustig zumute. Geistesabwesend guckt er den Jungen an und murmelt vor sich hin, als würde er eine Weisheit zum Besten geben: Was helfen einem Literatur und Bildung, wenn man keine Ehre im Leib hat?
    Eine Antwort erwartet er nicht, er ist auch auf keine aus, sieht den Jungen vielmehr halbwegs nachsichtig an, vielleicht weil er noch so jung und unerfahren ist und die Enttäuschungen des Lebens erst noch vor sich hat und sich früh genug in der Mühsal des Alltags wird aufreiben müssen; er erwartet mithin keine Antwort und bekommt doch eine.
    Dafür darfst du Literatur und Bildung nicht verantwortlich machen, sagt der Junge entschuldigend.
    Dass du dich nicht schämst, so zu reden, sagt Gísli und dreht dabei das traurig leere Glas, als ob er um ein paar Jahre gealtert wäre. Vielleicht bist du keine gute Gesellschaft für mich.
    Die Nacht kommt, der Nebel verzerrt die Welt, aber hier gibt es eine Frage, an der man sich die Zähne ausbeißen kann: Bárður stirbt, und die Welt wird arm, aber gerade dadurch haben sich dem Jungen Welten und Möglichkeiten eröffnet, von denen seine Eltern nicht einmal hätten träumen können, sodass es aussieht, als hätte sich Bárður für ihn geopfert, und wie soll man mit einem solchen Opfer leben? Wie soll er leben? Bárður stirbt, und da kommen die Fähigkeiten des Jungen zum Vorschein. Ich sterbe jetzt, damit du das Glück kennenlernen kannst. Ich werde zu Finsternis, aber du steigst auf ins Licht. Das kann nicht richtig sein, denkt der Junge, und deswegen bricht jetzt alles zusammen. Oder kann Glück etwa im Unglück liegen, darf Licht aus Dunkelheit hervorgehen, und ist es in dem Fall zu rechtfertigen, es anzunehmen?
    Der Junge nippt am Bier. Es ist, als ob ihn der Nebel lähmte, der Nebel und der Zweifel, und vielleicht ist er deswegen nicht zum Haus zurückgekehrt, sondern im Hotel hängen geblieben. Er taugt ja auch zu nichts. In dem Moment, in dem es sich über Geirþrúður bedrohlich zusammenzieht, erweist er sich als nichtsnutziger Grünschnabel und noch Schlimmeres, als ein Teil ihres Unglücks, als ein weiterer Grund für Friðrik, sie fertigzumachen. Schließlich bietet sie diesem Subjekt Asyl, das Ragnheiður in Gegenwart ihres Vaters namentlich erwähnt hat, diesem Burschen, der eine gute Stellung hingeworfen hat, der seine Zeit auf Bücher verschwendet und es dennoch wagt, sich an seine Tochter heranzumachen. Das ist unerträglich. Und es ist klar, dass so jemand nur unter Geirþrúðurs Fittichen leben kann; ein Grund mehr, ihr die Flügel zu stutzen. Er taugt nichts. Ebenso wenig wie der Mann ihm gegenüber, der Herr Rektor. Ist es der Hang zur Literatur und zur Bildung, der sie dermaßen untauglich macht?
    Untauglich. Jawohl. Hinderlich. Mag sein. Für niemanden eine Hilfe. Das stimmt vielleicht nicht ganz, einigen kann er schon helfen, auf seine Weise. Er hat Marías Brief in der Tasche, ihren Notizzettel eher, das Einzige, was sie schicken konnte, ganz wenige Worte, die Dankbarkeit ausdrücken und ein Verlangen, dass es schön wäre, wenn sie mit ihm über die Bücher reden könnte, doch liege leider das Meer dazwischen, das Meer, auf dem wir leben, in dem wir sterben. Bittet sie ihn nicht um Gesellschaft, um die Gesellschaft, die sich eben doch in Worten finden und über Worte herstellen lässt? Wenig kommt dem gleich, Briefe zu erhalten. In Briefen ist Nähe, sie überbrücken Distanzen, sind wertvolle Gesellschaft, die dem Menschen hilft, ihn noch lange, nachdem der Brief gelesen ist, wärmt.
    Ich werde ihr schreiben, sagt der Junge laut, und Gísli stellt sein Selbstgespräch ein und hebt sein Glas. Aber es ist leer, leer wie das Leben, alles läuft auf das Gleiche hinaus. Er guckt den Jungen an, der etwas gesagt hat, es ging darum, einen Brief zu schreiben, als ob das etwas ändern könnte, als ob das hülfe.
    Schreiben, wem schreiben?, fragt der Rektor müde. Die Flasche ist leer, den nächsten Drink muss er

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