Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
blickte zu Gísli hinüber, der zwischen Schlaf und Wachen pendelte. Er hatte wenig geschlafen und viel getrunken, eine tödliche Mischung, aber hin und wieder kam er zu sich.
Macht, sagte er, Herrschaft, wiederholte er und versuchte sich aufzusetzen, weil er ihre schwarzen Augen auf sich ruhen fühlte. Eine Hand stützte er auf den Schenkel, als wollte er eine Erklärung abgeben.
Ja?, sagte Geirþrúður fragend.
Es entstand eine lange Pause. Sie warteten darauf, was Gísli sagen wollte. Die Wohnzimmeruhr stand wie gewöhnlich, das Pendel ein an den Füßen aufgehängter Verbrecher.
Der Teufel kriegt die Menschen durch Macht in seine Fänge, verkündete Gísli, Schulleiter aus der vornehmen Familie, endlich.
Das glaube ich nicht, sagte Geirþrúður. Ich glaube vielmehr, die Macht macht den Menschen zum Teufel.
Pfui Teufel, sagte Gísli, und sein Kopf schwankte, weil er noch betrunken war oder vor Müdigkeit oder auch vor Konzentration oder einfach, weil ihn diese schwarzen Augen nicht losließen.
Erzähl weiter, sagte Helga an den Jungen gewandt, und das tat er. Sie waren mit Svandís zu Rakel gegangen, Oddur war da gewesen, Gísli hatte Svandís seine Jacke gegeben.
Die aus England?, fragte Geirþrúður.
Ja, antwortete der Junge. Und dann war im Sodom die Nacht über sie hereingebrochen. Die ganze Zeit hatte er den Brief bei sich gehabt, der bei der Schlägerei nicht beschädigt worden war.
Brief, sagte Gísli und versuchte noch einmal, sich aufrecht hinzusetzen. Teufel, ich muss Séra Kjartan schreiben, das war vielleicht eine Nacht! Fast so, als wäre man lebendig.
Die Frauen guckten sich an, der Junge sah es, wollte aber vor allen Dingen endlich schlafen, aus diesen nach Whisky stinkenden Klamotten kommen und schlafen, doch da sagte Helga: Ein großer Mann ist hier angekommen, er war sehr fahrig und unsicher, aber er wollte zu dir.
Zu mir, staunte der Junge, überrascht, dass jemand nach ihm gefragt haben sollte, dann stutzte er wegen der knappen Beschreibung. Ein großer, unsicherer Mann. Heißt er vielleicht Gvendur?
Genau.
Gvendur ist hier?
Und ich auch, ließ sich Gísli vernehmen. Er war fast eingeschlafen, sein Kopf lag mit dem Kinn auf der Brust und hing am Hals wie ein überflüssiges Gewicht, das der Körper so schnell wie möglich abschütteln will, doch als der Junge halblaut ausrief: Gvendur ist hier?, da schreckte Gísli hoch, sah auf, blickte fragend um sich und sagte dann mit Entrüstung in der Stimme: Und ich auch.
Es passieren so viele seltsame Dinge, meinte Geirþrúður.
Der Junge blickte abwechselnd auf Gísli und die Frauen, er hatte völlig vergessen, dass es keineswegs selbstverständlich war, den Schulleiter nächtens hier im Haus zu haben, und dass man ihm aufgetragen hatte, ihn mitzubringen, doch wozu? Und jetzt war auch noch Gvendur da und schlief.
Also, fing der Junge an, sagte dann aber nichts mehr, sondern hob bloß die Arme, wohl zum Zeichen, dass er gar nichts mehr verstand.
Sie müssen etwa die Mitte des Djúps erreicht haben und rudern in nördlicher Richtung. Gísli sitzt noch immer im Heck, denn Kolbeinn wollte rudern.
Jetzt bin ich wieder lebendig, sagte er, bei der Anstrengung.
Kühne Behauptung, meinte Gísli.
Geirþrúður sitzt vorn im Bug und lässt manchmal den Blick über das Boot schweifen, schaut auf die vier Menschen an den Riemen, diese merkwürdige, zusammengewürfelte Gemeinschaft, einen Riesen, der Angst vor dem Leben hat, einen blinden Kapitän, der sich den Charakter mit Büchern verdorben hat, auf Helga, ihre treueste Gefährtin beinah von Kindesbeinen an, und den Jungen, dieses ganz besondere Geschenk. Schnell schließt sie die Augen.
Gvendur ist auf der Suche nach dem Jungen am Abend in den Ort gekommen. Die Fangzeit war endlich vorüber, sie hatte sich außergewöhnlich lange in den Sommer hineingezogen, ganz so, als wollte und wollte Pétur nicht aufhören. Er sprach kaum noch mit jemandem. Árni wartete ungeduldig darauf, endlich zu seinem Hof gehen zu können, und die Atmosphäre in der Fischerhütte war sehr geladen und angespannt – und dann war Pétur mit Elínborg in den Verschlag gegangen. Sie verarbeiteten gerade ihren Fang, als Pétur wortlos das Messer weglegte, in die Hütte ging, mit Elínborg wieder herauskam und mit ihr im Verschlag verschwand. Da hatte Einar gelacht, als hätte er den Teufel selbst im Leib, und dann etwas über Andrea gesagt, etwas sehr Hässliches, so gemein, dass Gvendur rotgesehen hatte und erst
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