Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
die Arme, der Junge schluckte und sagte das Nächstliegende: Ich verstehe nicht, und Gísli sah ihn mit geradezu kindlicher Dankbarkeit an.
Geirþrúður strich sich flüchtig über die Lippen, zwischen ihnen mein Leben, hatte Kapitän J. Andersen gesagt und sie mit seiner Zunge und seinen Küssen geöffnet. Zwischen ihnen mein Leben, und sein Tod vielleicht auch? Sie fuhr leicht über ihre Lippen und schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, nur der Junge sah es, es war ein Augenblick der Trauer.
Wir verstehen vieles nicht, sagte sie, sogar nur sehr wenig, aber das ist der einzige Ausweg: dich zu heiraten, erläuterte sie und sah Gísli an. Und du mich. Du kommst endlich aus dem Joch deines Bruders frei, denn wie du weißt, bin ich keine arme Frau, du kannst regelmäßig ins Ausland reisen, kannst dir Bücher kaufen, brauchst nicht mehr in abgetragenen Sachen herumzulaufen, brauchst nicht mehr vor deinem Bruder zu kriechen, um dir eine englische Jacke zu kaufen, brauchst nicht bei einem abgetakelten, arroganten General zu sitzen, außer wenn es dir gefällt. Natürlich wird man dir das eine oder andere nachsagen, die Leute kommen einfach nicht damit zurecht, dass einmal ein Mann der schwächer gestellte Partner ist. Eine Frau soll nicht mit ihrem Mann konkurrieren, sie soll ihn trösten und aufrichten, aber sie darf ihm auf keinen Fall überlegen sein.
Sie haben Núpur passiert und ändern den Kurs leicht nach Osten, es ist nicht mehr weit bis zur Bucht von Vík, sie öffnet sich irgendwo wie eine grüne Umarmung zwischen den schroffen Bergen.
Ich weiß nicht, wie ich mich fühle, denkt Gísli und hält die Hand ins Wasser, möglicherweise nur um etwas Entscheidendes zu fühlen. Irgendwann hat man einmal etwas erreichen wollen, hatte es nicht mit Literatur zu tun gehabt? War es nicht darum gegangen, etwas zu vollbringen, und war es nicht auch um ein eigenes Heim gegangen? Du liebe Güte, was für Träume, was für Kindereien! Er zieht die Hand aus dem Wasser, sie ist jetzt kalt vom Meer, immerhin etwas, vorübergehend. Er lässt den Blick über das Boot gleiten. Die vier Rudernden sind ins Schwitzen geraten und rot vor Anstrengung. Auf dem Gesicht des blinden Kapitäns, dieses so schön boshaften alten Knaben, liegt ein eigentümlicher Ausdruck, er lässt an Schmerz und Freude zugleich denken. Ob die Freude verfliegen wird, sobald sie an Land gehen? Helga guckt wie in Gedanken vor sich zu Boden, bei ihr weiß man nie, woran man ist. Ist sie glücklich, oder vermisst sie das Glück gar nicht? Ist das überhaupt möglich? Hinter ihr grinst dieser Riese, Gísli weiß seinen Namen nicht mehr, ein Bekannter des Jungen jedenfalls, offensichtlich mit einer Bärenkraft in diesen Schultern, aber die reine Arglosigkeit ins Gesicht geschrieben. Der Riese wendet kein Auge von Helga. Neben ihm sitzt der Junge. »Hat Gott ihn geschickt oder der Böse?«, hat Kjartan in seinem Brief vom Frühjahr gefragt. Wie soll ich denn das wissen, verdammich, denkt Gísli und hält noch einmal die Hand ins Wasser, ehe er den Blick zu Geirþrúður weiterwandern lässt. Sie sitzt ganz vorn in der Bootsspitze, und Gísli bekommt den Eindruck, dass sie alle auf sie ausgerichtet sind, dass sie diese Schar führt, diese merkwürdige Versammlung verirrter Seelen und Gemüter. Er lässt die Hand im Wasser, und die anderen rudern, Pfarrer Kjartan und seiner Hochzeit entgegen.
Dich heiraten?, fragte er in der Nacht, nachdem Geirþrúður ihm eröffnet hatte, sie wolle Séra Kjartan dazu bringen, sie zu trauen. Dich heiraten, sagte Gísli, als er endlich die Sprache wiederfand, ja, warum nicht? Er zuckte die Schultern, als kümmerte ihn das gar nicht, dann schüttelte er den Kopf, als könnte er sein Glück nicht fassen: Du musst doch völlig verrückt sein!
Weil ich mich nicht beuge, es ablehne, ein Leben zu führen, wie man es mir vorschreiben will, weil ich mir von selbst angemaßten Provinzpotentaten nichts sagen lasse und mein Leben nicht nach engstirnigen Maßstäben einzurichten gedenke, ja, vielleicht, erwiderte Geirþrúður und lächelte müde.
Sie hatte diese Möglichkeit, diese verrückte Idee, früher schon erwogen und den Vortag darauf verwendet, sie mit Jóhann und mit Helgas Freundin Þórunn zu erörtern, der Frau des Fotografen Ketill.
Gísli ist eine weiche Natur, hatte Þórunn gesagt, Friðrik wird dich durch ihn in die Hände kriegen.
Ich glaube, das werde ich verhindern können, hatte Geirþrúður geantwortet.
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