Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
wieder zur Besinnung gekommen war, nachdem er sein Idol und seinen Anführer ohnmächtig geschlagen hatte. Vollkommen bewusstlos. Árni hatte schnell nachgesehen, ob Einar noch am Leben war, und ihn dann beiseitegeschleift. Man soll doch nicht in Abfall arbeiten, hatte er gesagt. Sie hatten noch die restlichen Fische ausgenommen, dann hatte Gvendur, unterstützt von Árni, die Hütte verlassen, und Árni hatte ihm gesagt, er solle dahin gehen, wo der Junge und Andrea seien, und dann weitersehen.
Das Boot hebt und senkt sich auf schweren Wellen, läuft weiter nach Norden. Kolbeinn hat die Himmelsrichtungen in sich.
Da ist der Núpur, sagt er auf einmal und nickt mit dem Kopf in eine Richtung. Die anderen sehen nichts außer Nebel, hören dann aber, wie sich die Wellen am Fuß des dunklen, lotrechten Bergs brechen, der Hunderte Meter steil in den Himmel aufragt wie ein Schrei. Gísli schließt die Augen, er braucht Schlaf, er braucht Ruhe, die langsamen Bewegungen des Boots sollten ihn einschläfern; es tut gut, die Augen zu schließen und sich von den anderen abzuschotten. Er macht die Augen zu, und der gleichmäßige Atem der Rudernden rückt in größere Ferne. Vielleicht ist alles nur ein Traum? Der Nebel, diese wundersame Fahrt, die Umdrehung der Erde?
Das Leben ist ein Unglück, hat er nachts in Geirþrúðurs Wohnzimmer gesagt, nachdem der Junge von den Ereignissen des Abends und der Nacht berichtet hatte. Die Müdigkeit hat ihm sämtliche Glieder schwer gemacht, und seine Lider wurden zu Fensterläden, die langsam vor seine Augen klappten, sosehr er sich auch Mühe gab, sie offen zu halten. Richtig wach ist er nur noch einmal geworden, als ein Brief erwähnt wurde, da hat er an Kjartan denken müssen; er musste ihm schreiben, ihn besuchen, denn ins Ausland kam er auch in diesem Jahr nicht, so wenig wie in den anderen, und nach Reykjavík mag er nicht fahren, was soll er in diesem kleinen Kaff? Ich besuche Kjartan, hat er, halb im Schlaf versunken, gedacht. Wir werden in seinem kleinen Arbeitszimmer beim Geruch von Büchern trinken und über wichtige Dinge reden. Vor allem aber schlafen. Da hat jemand seinen Namen genannt, vielleicht mehrmals. Was?, hat er gefragt und anschließend geglaubt, Geirþrúður habe ihn gefragt: Was ist das Leben, Gísli? Und da hat er geantwortet: Das Leben ist ein Unglück.
Ist das nicht die Ausrede derer, die aufgegeben haben?
Etwas in ihrer Stimme hat ihn geweckt. Beide Frauen haben ihn forschend angesehen.
Ich bin feige, hat er gesagt und entschuldigend die Arme gehoben.
Aufrichtigkeit kann einen wieder tapfer machen, hat Geirþrúður darauf gesagt, aber das Leben ist kein Unglück, es ist vielleicht schwer, manchmal infam, und deswegen geben vielleicht zu viele auf, sind womöglich zu weich oder nicht zäh genug, um ihre Träume weiterzuverfolgen. Sie beugen sich, finden sich mit Dingen ab, mit denen sie sich eigentlich nicht abfinden sollten. Du und Kjartan, ihr seid doch miteinander bekannt, richtig?
Gísli hat eine ganze Weile mit offenem Mund dagesessen, hat Mühe gehabt, die einfache Frage zu beantworten, ob er Kjartan kenne, denn er hat ganz plötzlich das Gefühl gehabt, in wenigen Sätzen seinen eigenen Verrat am Leben vor Augen geführt zu bekommen, an sich selbst und an den Träumen, die auch er einmal hatte. Schöne Träume waren das, findet er, und in ihnen kam kein Friðrik vor. Endlich hat er zustimmend genickt. Doch, wir kennen uns gut.
Es wurde still im Raum, der Junge hatte Platz genommen, war ebenfalls müde, guckte aber abwechselnd von Gísli auf Geirþrúður, spürte etwas, eine gewisse Unruhe, gar Furcht. Den Schulleiter machte das lange Schweigen wieder schläfrig, sein Kopf schwankte leicht, Helga nahm ihren Blick nicht von Geirþrúður, die ihrerseits dem Jungen ein leises Lächeln zuwarf, dann Gísli ansah.
Das ist sehr gut, dass ihr euch kennt. Ich dachte nämlich, wir fahren zu Pfarrer Kjartan und lassen uns von ihm trauen.
Gísli hat erst nur weiter schweigend vor sich hin gestarrt und dann gesagt: Mann, muss ich besoffen sein. Darauf hat er den Kopf geschüttelt, weil er offenbar seinen Ohren nicht traute. Darum wiederholte Geirþrúður noch einmal: Ich habe vor, dich zu heiraten, Gísli Jónsson. Und als er immer noch nicht reagierte und bloß guckte, ohne ein Wort zu sagen, fügte sie noch hinzu, als hätte sie es vergessen: Wenn du einverstanden bist, heißt das.
Gísli schwieg und guckte.
Helga kreuzte mit einer Spur von Ungeduld
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