Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
aufs Trockene zu ziehen. Zwei Sechsruderer liegen da, ein paar kleinere Boote, von denen einige in der Nacht oder in der Frühe auf See gewesen sind. Eine Schar Möwen streitet sich um die wenigen Reste, die vom Ausnehmen der Fische noch zwischen den Steinen liegen. Eine der Möwen fliegt auf, schwebt in der Höhe und kreischt zweimal. Das Meer wirft unter den Windstößen weiße Gischt auf, und der Junge erblickt ein auf ihn zuhaltendes Schiff, wahrscheinlich ist es ein Kutter, aber noch zu weit entfernt, um das mit Sicherheit festzustellen, und es wird mindestens noch eine Stunde dauern, bis es Land erreicht. Er schaut übers Meer, das schwer zwischen den Bergen atmet – dahinten jenseits von Meer und Bergen warten sie auf ihn, Geirþrúður, Helga und Kolbeinn, der blinde Kapitän, und sie machen sich womöglich Sorgen. Seine Fahrt mit Jens hat viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als sich jemand vorgestellt hat. Sie gerieten in einen Sturm, verirrten sich und nahmen auch noch den längeren Weg, weil Jens nachdenken musste. Dann ist Hjalti ums Leben gekommen.
Die Möwe kreischt noch einmal. Irgendwo steht geschrieben, wer da draußen ums Leben komme, sterbe nicht voll und ganz, sondern verwandele sich in eine Möwe, werde zu einem Schrei im Wind. Der Junge steht wieder vor dem Kaufladen, Zettel hin oder her, er muss ein paar Bücher für María aussuchen und sie ihr bei nächster Gelegenheit schicken lassen, wann immer die sich ergeben mag. Er drückt gegen die Tür.
Sie klemmt. Er muss die Schulter zu Hilfe nehmen und Kraft einsetzen, es erfordert einen festen Willen, dort einzutreten, und es bleibt keinem verborgen, wenn tatsächlich jemand kommt. Jetzt werde ich beobachtet, denkt er, nachdem er die Tür aufgedrückt hat und im Laden steht. Mit erstaunlich wenig Kraftaufwand lässt sich die Tür wieder schließen. Der Junge sieht sich um, aber es ist niemand da. Das Geschäft ist nicht groß für jemanden, der Tryggvis Laden kennt und für diesen Sommer sogar Arbeit in Leós Landhandel annehmen wollte, doch dann vergaß Bárður seinen Anorak, und die Welt war nicht mehr dieselbe. Wir wissen nie, was im Leben als Nächstes kommt, wer den Tag noch bis zum Ende erlebt und wer stirbt, wir wissen nicht, ob der letzte Gruß ein Kuss, ein bitteres Wort, ein schneidender Blick sein wird, ob jemand nicht aufpasst, vergisst, nach links oder rechts zu gucken, und schon kann es zu spät sein, ein böses Wort zurückzunehmen, zu spät, sich zu entschuldigen, zu spät, noch über das wirklich Wichtige zu reden, über das, was wir eigentlich sagen wollten, was aber aus Verärgerung, Alltagsmüdigkeit oder Zeitmangel nie zur Sprache gekommen ist. Du vergisst, nach rechts zu gucken, und ich sehe dich nie wieder, das, was du mir gesagt hast, setzt sich in mir fest und brennt da bis ans Ende meiner Tage und Nächte, der Kuss, den du hättest bekommen sollen, vertrocknet auf meinen Lippen und wird zu einer Wunde, die jedes Mal aufbricht, wenn mich jemand anders küsst.
Der Junge zieht die Nase hoch, wie um die Stille zu durchbrechen. Von der Tür zur Theke sind es kaum drei Meter, die Regale stehen ziemlich leer da. In einer dunklen Ecke rechts vom Jungen gibt es einen kleinen Tisch mit vier Stühlen. Auf einem davon sitzt ein Mann und fixiert den Jungen unverwandt, der erschrickt, denn er hatte beim Eintreten nur den Tisch und die leeren Stühle wahrgenommen. Der Mann sitzt bewegungslos da, den Stuhl hat er nach hinten gekippt, sodass die vorderen Stuhlbeine vom Boden abgehoben sind, er hat dunkelbraunes Haar und trägt braune Kleidung in der gleichen Farbe wie die Wand hinter ihm.
Guten Tag, sagt der Junge, als er sich halbwegs von seinem Schreck erholt hat, und wiederholt es noch einmal, als der Mann seinen Gruß nicht erwidert. Guten Tag.
Der Mann hat die Augen offen, sein spärliches Haar ist sorgsam in der Mitte gescheitelt, er trägt einen dicken, nach unten hängenden Schnauzbart, sorgfältig gestutzt; er wirkt lang und hager, obwohl man die Figur eines Sitzenden nur schwer einschätzen kann, aber sein Hals ist ungewöhnlich lang, als ob der Kopf mit scharfen, fast gemeißelten Gesichtszügen auf einem Stiel säße.
Guten Tag, versucht der Junge es ein drittes Mal. Keine Reaktion. Kann es sein, dass der Mann gerade gestorben ist? Der Junge traut sich keinen Schritt näher, beugt sich aber vor, und nein, die Augen sind nicht gebrochen, wirken aber seltsam starr.
Sie haben …, beginnt der Junge. Ich habe gehört,
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