Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
nötig.
Ich wünschte, es wäre so.
Er stöhnt. Ich habe von einem jungen Mann geträumt, sagt er und schließt die Augen. Er war wirklich jung, sagt er, öffnet die Augen, die nach Hildur suchen, doch anscheinend sieht er nichts, er macht die Augen wieder zu, murmelt etwas von einem Ort, von dem die Dunkelheit kommt, und schlägt die Augen dann wieder auf.
Ich war auch einmal so jung, erinnerst du dich, Hildur?
Undeutlich, aber ja.
Ich weiß nicht, was passiert ist, sagt er und ist gleich wieder eingeschlafen, wieder in dem Schutz versunken, den das Trinken verleiht.
Hildur geht mit dem Jungen nach unten und holt ein schmales Bändchen.
Das schenke ich dir für deine Hilfe.
Vorsichtig streicht er über den Umschlag. Gestur Pálsson, Drei Erzählungen .
Ich muss wieder nach oben, sagt die Frau und schiebt den Jungen fast zur Tür hinaus, er kann gerade noch das Buch einstecken und Mütze und Handschuhe mitnehmen.
Ich muss jetzt bei ihm sitzen, er wird noch häufiger brechen, und es ist nicht schön, an der eigenen Kotze zu ersticken.
Muss er denn noch weiter angebunden sein?, fragt der Junge zweifelnd oder sogar bittend.
Sie lächelt, ein Grübchen bildet sich auf ihrer rechten Wange, sie lächelt, doch das Lächeln erlischt gleich wieder, das Grübchen wird flacher und verschwindet. Jetzt ist er brav, sagt sie, aber nicht mehr lange. Dann brüllt er los und wirft mir die übelsten Schimpfnamen an den Kopf, es wird brenzlig riechen, so wütend ist er, doch dann wird er anfangen zu weinen und mich wie ein kleines Kind anbetteln, wobei ein Kind nicht um Schnaps bettelt. Aber vielen Dank für deine Hilfe! Versuch, so zu leben, dass dich nie eine Frau am Bett festbinden muss, das ist so erbärmlich, sagt sie und schließt die Tür.
VIII
Der Junge ist schnell oben bei der Kirche. Er nimmt den kürzesten Weg, hat keine Lust mehr, das Dorf zu besichtigen, die anderen Ansammlungen von Häusern, diese Iglus, eingeschneite Hügelchen, die ein Leben umhüllen, das er nie kennenlernen wird. Er folgt zunächst einem halb ausgetretenen Pfad durch den Schnee, das Gelände steigt zur Kirche hin leicht an, sie thront auf einer kleinen Anhöhe über dem auseinandergezogenen Ort. Der Friedhof liegt voll vergangenem Leben, Knochen und verwesendem Fleisch, wir verstecken den Tod in der Erde, und langsam verwandelt er sich in Humus, in Wurmbehausungen und neues Wachstum. Im Sommer ist das Gras ein grünes Lied, und vielleicht ist dieses Lied die Ewigkeit des Menschen. Der Junge denkt nicht groß nach, sondern beeilt sich, als käme er zu spät zu einer Verabredung, obwohl doch niemand auf ihn wartet, bis auf eine Tote in der Kirche; die anderen Toten können warten, das müssen sie auch, etwas anderes bleibt ihnen gar nicht übrig.
Manchmal weicht er von dem Trampelpfad ab, um durch den tieferen Schnee zu stapfen, und die Anstrengung befreit ihn von dem Bild, wie Sigurður, Leiter des Handelspostens und Bruder eines Dichters, gefesselt auf seinem Bett liegt. Der Junge fühlt das Buch, das er eingesteckt hat, er möchte es einige Male lesen und es dann María schicken. Wo gibt es Glück, Erfüllung, wenn nicht in Büchern, Dichtung, Wissen? Zuerst Rektor Gísli, dann Séra Kjartan in Vík, jetzt Sigurður … Warum sind sie unglücklich, woher kommt dieses Getriebensein, dieses Unglück, und warum spendet Wissen keinen Trost? Was braucht es, um glücklich zu werden?, fragt er sich und spürt, wie ihn Angst durchfährt, ein Gefühl der Angst gegenüber dem Leben.
Es hat sich ganz schön zugezogen, die Wolken sind dunkler geworden, Schnee ist im Anzug, aber es ist nicht mehr so kalt wie in den letzten Tagen, morgen oder übermorgen könnte der Schnee in Regen übergehen, der Frühling kommt, der ersehnte Frühling, und er bringt uns Licht, die Singvögel, Farben, gelbe Blumen und Vogelgezwitscher. Er kommt mit plötzlichem und rasantem Tauwetter und frisst sich in den Schnee, einige Tage gibt es fürchterlichen Schneematsch, nicht auszuhalten, in den Grassodenhäusern, von denen einige im Schnee vergraben sind, wird es unangenehm klamm, Betten werden feucht, es wird kalt, darin zu schlafen, und kalt, aufzuwachen, die Kälte kriecht einem bis ins Mark. Wie wird es da erst einem kleinen Mädchen an der Winterküste gehen, das schon vorher ständig hustete?
Der Junge bleibt unterhalb der Kirche stehen und denkt an die Kleine, blickt über die schneebeladenen Häuser, das windgestriegelte Meer, das näher kommende dunkle Schiff
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