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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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weich, dein Bruder wird dich deswegen weiterhin gängeln, eigentlich sogar deine beiden Brüder, und zwar noch viel heftiger und zielgerichteter, sobald eure Mutter einmal gestorben sein wird. Du bist ihr Liebling, ihr Augenstern, könnte ich sagen, nachdem ich mich mit ihr über dich unterhalten habe. Du bist ihr wunder Punkt. Friðrik beneidet und hasst dich dafür wahrscheinlich manchmal. Er hat das Imperium eures Vaters zusammengehalten und sogar vergrößert, alles ruht auf Friðriks Schultern; dafür hat sie ihn sicher gelobt, sie respektiert ihn, aber Wärme hat er dafür von ihr nicht bekommen, das bezweifle ich. Karólína ist fast zuzutrauen, dass sie am liebsten hier einzöge, nur um auf ihre letzten Tage in deiner Nähe zu sein, aber ich hoffe, sie tut es nicht. Das Haus ist zwar groß, aber dafür ist es nicht groß genug. Darum aber wird Friðrik versuchen, alles an sich zu raffen, sobald sie einmal nicht mehr sein wird. Du weißt sicher, dass du dir als mein Ehemann alles, was mir gehört, unter den Nagel reißen könntest, das Gesetz gibt dir das Recht dazu; aber Friðrik würde es dir binnen kürzester Zeit abnehmen und obendrein den letzten Rest an Selbstachtung, der dir noch geblieben ist. Wir heiraten, ich befreie dich von deinem Bruder, du lässt die Finger von allem, was mit Geschäften zu tun hat, darfst aber zu allem Fragen stellen und Vorschläge machen, wie es dir beliebt, vor allem aber sollst du ein aufrechter Mensch bleiben, unterrichte weiterhin, hier im Haus wie in der Schule, bring dein Wissen und deine Bildung in diesen Haushalt. Gegen die Schwächen gehen wir an, wenn sie sich zeigen sollten; jetzt aber sollten wir schlafen gehen, wir müssen früh aufstehen.
    Damit hat sie sich in ihrem weichen Nachthemd erhoben, das sich so schön um ihren Körper schmiegte.
    Ob wir miteinander glücklich werden?, hat er bittend und entschuldigend den Teppich gefragt.
    Erzähl keinen Blödsinn, hat sie seelenruhig zurückgegeben, aber es lag dabei hoffentlich so etwas wie der Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Er hat nicht gewagt, aufzublicken.
    Du bekommst natürlich ein eigenes Schlafzimmer, aber ich hoffe doch, dass ich manchmal nachts von dir Besuch bekommen werde.
    Gísli blickte auf und errötete. Er lief rot an, obwohl er betrunken und müde war, obwohl er so viele Jahre auf dem Buckel hatte, aller Traurigkeit des Lebens und allen geplatzten Träumen zum Trotz, obwohl er den Grund düsterer Nächte durchschritten und aus Bächen getrunken hatte, die in der Hölle entsprangen. Er wurde rot, und das muss wohl die Begründung dafür sein, dass er sich traute, die Frage auszusprechen, die in der Luft lag: Aber was ist, wenn? Was ist, wenn ich mich nicht gegen Friðrik durchsetzen kann, wenn ich nicht durchhalte, ohne dich zu verraten? Was dann? Was, wenn ich diese Stärke einfach nicht in mir habe?
    Wenn du sie verrätst, stirbst du, hörten sie den Jungen sagen, und es lag ein Staunen in seiner Stimme, als wäre er selbst zu der überraschenden Einsicht gelangt.
    Jetzt weiß du Bescheid, sagte Helga, bückte sich und reichte Geirþrúður eine schmale, flache Schatulle, die auf dem Tisch gestanden hatte. Gísli sah es aus den Augenwinkeln, sein Augenmerk war auf den Jungen gerichtet.
    Paragraf zwölf, sagte er. Das ist Paragraf zwölf der Verfassung. Da hast du es selbst gefunden. Du kennst die Antwort besser als ich!
    Da öffnete Geirþrúður die Schatulle und hielt eine Pistole in der Hand.
    Sie hat Guðjón gehört, sagte sie wie in Gedanken. Er hat sie geschenkt bekommen und wollte sich mit ihr umbringen. Das war, bevor er mich kennengelernt hat. Er hat sie mir mit den Worten gegeben, ich solle von ihr Gebrauch machen, wenn es nötig sei, in einer Notlage, falls man mich ernstlich bedrohen sollte. Er hat es im Spaß gesagt. Vielleicht aber auch ernst gemeint. Sie wog die Pistole in der Hand und sah Gísli nicht an, der sagte: Du bist brutal.
    Nein, ich bin nur eine Frau in einer Männerwelt.

IX
    Sie landen nahe der Mündung des Flusses, der oben von der Heide herabkommt und in einem Bogen am Pfarrhaus vorbei in Richtung Meer fließt. Der Fluss findet trotz des Nebels seinen Weg. Es ist Sommer, mitten am Tag, aber die Welt ist still, der Nebel hat alles in ihr zum Schweigen gebracht, nur den Gesang des Flusses hören sie, und der bringt das Leben der Halme und die Träume der Grasbüschel mit sich, es ist ein magischer Gesang, der dann im Meer verklingt. Die Gruppe steht am Boot,

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