Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
der Wahl der Anekdoten, kam mit Geirþrúðurs Gegenwart nicht zurecht, hatte viele Geschichten über sie gehört, auch selbst einige erzählt, und jetzt saß sie leibhaftig mit ihm am selben Tisch, hielt sich kerzengerade, und alles, was sie sagte, wirkte wohlüberlegt oder irgendwie richtig. Ihre Anwesenheit und der Wein waren zu viel für den Knecht, er wieherte zwei-, dreimal los und wurde schließlich von Gvendur in die Kirche hinübergetragen, das war, noch bevor der Regen einsetzte. Er trug den Knecht wie einen Sack über der Schulter.
Verträgt nicht gerade viel, sagte Geirþrúður mit einem leichten Lächeln.
Das macht dein Einfluss, sagte Anna, und in diesem Moment begann es zu regnen.
Es war eine schöne Hochzeitsfeier. Natürlich wusste niemand, was das frischgetraute Paar zur Hochzeit bewogen hatte. Die Hoffnung auf ein besseres Leben, eine Art Freiheit, Unglück, Dummheit? Was auch immer es gewesen sein mochte, jedenfalls war das Unvorhersehbarste eingetreten, Geirþrúður hatte Gísli geheiratet, sie hatte in die erste Familie am Ort eingeheiratet. Diese Frau, die alle herausgefordert und alles mit Füßen getreten hatte, die heiratete nun das schwächste Glied in der stärksten Kette, die lockte ihn mit Versprechungen von Unabhängigkeit zu sich und drohte ihm mit einer Pistole, sollte er sie verraten, werde sie die Pistole mit der Schwärze ihrer Augen laden und auf sein Herz zielen. Erst nach einer halben Flasche traute sich Gísli, sie anzusehen, und war noch nie so weit davon entfernt gewesen, das Leben zu begreifen. Manchmal guckte sie zurück, und dann dachte er: Um Himmels willen, sie verachtet mich! Dann fielen ihm ihre Sommersprossen auf, das Licht fiel vielleicht für einen Moment anders auf ihr Gesicht und hob sie hervor, und da dachte er: Nein, sie bemitleidet mich, aber ist das nicht noch schlimmer? Er betrachtete die Sommersprossen und dachte: Was ist aus meinen Träumen geworden, kann ich sie noch irgendwo finden?
Da stand der Junge auf. Er hatte kaum etwas getrunken und gerade vor sich hingemurmelt: Das Leben, das sind die glitzernden Sterne, aber was ist dann die Dunkelheit zwischen ihnen? Steh auf, hatte sein Herz da gewispert, und er erhob sich. Alle verstummten schlagartig, als hätten sie darauf gewartet, schweigend sahen sie den Jungen an, der gegen die Decke guckte, um nicht den Mut zu verlieren, und sich an seinem fast leeren Glas festhielt. Er blickte nach oben, als würde er zur Decke sprechen oder zu dem, was darüber war, dem Abend, den Regentropfen, dem Himmel, Gott.
Das Leben, begann er, soll aus glitzernden Sternen bestehen und nicht nur aus Unglück und Trauer.
Wer Schuhe spart und sammelt, damit er auf eine wichtige Reise gehen kann, sollte nicht sterben. Der Tod darf nicht seine Reise werden, denn wohin führt er uns, wenn nicht ins Dunkel? Ich habe immer geglaubt, Bücher und Wissen würden den Menschen glücklicher machen. Heute weiß ich, dass das nicht richtig ist, aber das ist auch das Einzige, was ich weiß. Das Leben ist schwer, aber es ist immer noch leichter als der Tod. Er ist ein Schurke, der uns alles nimmt, sämtliche Möglichkeiten, meine ich. Er nimmt uns die Augen weg, damit wir nicht mehr lesen können, die Ohren, damit uns keiner mehr vorlesen kann, er nimmt dir die Arme, und du kannst nie wieder den Menschen umarmen, der dir am meisten bedeutet, und die berühren, die du gern berühren möchtest. Es sind allzu viele Arme weg. Ich weiß nicht, wo sie geblieben sind, ich träume oft von ihnen, aber sie können nichts mehr berühren. Einmal, und das ist noch nicht lange her, da habe ich geglaubt, der einzige Weg, sie wiederzufinden, wäre, ebenfalls zu sterben. Dabei wusste ich, dass es falsch war. Ich habe einmal einen Brief bekommen, in dem stand, ich solle weiterleben. Ich wusste aber nicht, wozu. Doch das muss man wissen, man darf nicht einfach bloß deshalb leben, weil man noch nicht tot ist, das ist Verrat. Man muss leben wie ein Stern und leuchten. Das weiß ich jetzt. Aber ich weiß eigentlich nicht, warum ich jetzt aufgestanden bin. Geirþrúður hat heute geheiratet. Und zwar Gísli. Sie wissen beide eine Menge, und Geirþrúður ist ungeheuer stark, trotzdem hat es ihnen nicht ausreichend geholfen. Ich finde, das Leben sollte für sie etwas anderes bedeuten als Unglück. Ich weiß nicht, woher die Dunkelheit kommt, ich glaube aber, dass sie vom selben Ursprung kommt wie das Licht. Und ich glaube auch, sie kann sich nur ausbreiten,
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