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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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ganz eng zusammen, als ob sie auf etwas warteten, als ob irgendwas oder irgendwer ihnen ein Zeichen geben und erst bekräftigen sollte, dass es sie und das Leben gibt, dass von der Welt noch etwas mehr übrig ist als dieser Nebel und der Gesang des vorüberströmenden Flusses. Sie stehen jetzt wieder genauso reglos da wie am Morgen, als Þórunn kam und eine Aufnahme von ihnen machte.
    Ein Foto?, hatte Gísli erschrocken gefragt. Er war kaum wach und noch verkatert, müde und verwirrt.
    Unser Hochzeitsfoto, mein Lieber, hatte Geirþrúður geantwortet und gegrinst, als wenn das ein Scherz wäre. Auf dem Foto grinste sie dann nicht. Sie und Helga saßen mit gesetzten Mienen da, die Männer bildeten hinter ihnen einen Halbkreis, Kolbeinn sieht aus, als wollte er lächeln oder knurren, der Junge guckt unverwandt geradewegs ins Objektiv, als müsste er der Zukunft oder der Zeit ins Auge sehen, Gísli wirkt erschöpft, unsicher, aus dem rechten Auge schaut die Trauer, aus dem linken etwas anderes, während Gvendur von einem Ohr zum andern grinst, als hätte er gerade im selben Moment das große Glück erblickt.
    Jetzt müssen wir uns also im Nebel zurechtfinden, erklärt Geirþrúður.
    Macht mir nichts aus, mal über einen Wiesenhöcker zu fallen, verkündet Kolbeinn. Hilflosigkeit und Unsicherheit haben ihn am Strand wieder eingeholt.
    Ich führe dich, sagt Helga.
    Ich bin doch kein Krüppel, widerspricht er, nimmt aber doch ihren Arm.
    Gísli ist der Einzige, der schon einmal hier war, abgesehen vom Jungen, doch der nur ein einziges Mal, in Dunkelheit, Sturm und Schneetreiben, mehr tot als lebendig vor Erschöpfung.
    Wir gehen am Fluss entlang, schlägt Gísli vor und setzt sich an die Spitze, der Junge trägt die Kiste mit den Weinflaschen, Helga hat sich einen Beutel umgehängt und führt Kolbeinn, Gvendur kommt als Letzter, trägt Gepäck, das Hochzeitsessen und noch etwas.
    Ich glaube, wir sollten oberhalb des Flusses gehen, murmelt der Junge, als Gísli unterhalb bleibt und sie landeinwärts führt.
    Lassen wir ihn entscheiden, sagt Geirþrúður, dieses eine Mal. Es wird auch nicht lange dauern, umzukehren, und das Gehen tut doch gut.
    Der Nebel scheint sich zu lichten, stellt Gísli fest, nachdem sie eine gute Weile gelaufen sind. Er hat einen Pfad gefunden, dem sie gefolgt sind, aber jetzt haben sie sich verlaufen, finden keine Wegmarken mehr, und der Gesang im Fluss ist so gut wie verstummt.
    Sind wir nicht auf der falschen Seite des Flusses?, fragt der Junge vorsichtig, und Gísli guckt ihn an.
    Ja, wahrscheinlich, sagt er und seufzt.
    Geirþrúður holt eine Flasche aus der Kiste, französischer Rotwein, er macht dreimal die Runde, dann ist die Flasche leer.
    Dahinten ist ein Haus, sagt der Junge, nachdem er sich einige Schritte von ihnen entfernt hat, und dann klopft Geirþrúður an eine Tür, die der Junge wiedererkennt, nur dass sie vereist war, als er und Jens in einer Aprilnacht dagegen gepocht haben, ein Pferd zwischen sich. Das Klopfen des Postboten hat damals Hunde geweckt, die zu bellen begannen, doch diesmal schlagen sie nicht an, vielleicht bleiben sie wegen des Nebels hinter der Frau mit ihrem blonden Haar, die ihnen öffnet. Sie und Geirþrúður sehen sich an, hell und dunkel. Die Frau zeigt keinerlei Überraschung, dabei ist es nun wahrlich nicht alltäglich, die Haustür zu öffnen und eine solche Gruppe auf der Schwelle zu finden, sechs Personen, zwei gut gekleidete Frauen und vier Männer, davon zwei schwer bepackt, einer mit Augen wie schwarze Fensterhöhlen, der vierte … ah, jetzt erkennt sie den Schulleiter.
    Guten Tag, Gísli, sagt sie und verneigt sich unwillkürlich, denn Gísli ist ein feiner Herr. Nachdem Geirþrúður erklärt hat, wo sie hinwollen, sagt die Frau: Bei dem Nebel und ohne das Gelände zu kennen werdet ihr kaum allein dorthin finden, und sie schlägt ihnen ihren Mann Jón als Führer vor. Sie geht nicht davon aus, dass ein feiner Pinkel wie Gísli den Weg finden könnte.
    Sie nehmen das Angebot an, und Jón geht mit seiner siebenjährigen Tochter an der Hand neben Gísli an der Spitze. Er grinst vergnügt vor sich hin, denn es kommt nicht alle Tage vor, dass sich etwas Unerwartetes ereignet. Vater und Tochter geleiten sie bis zum Friedhofstor, dahinter lässt sich vage das Pfarrhaus erahnen.
    Nimm bitte das für deine Hilfe, sagt Geirþrúður und holt aus der Kiste eine Flasche Wein, die Jón eigentlich ablehnen möchte. Man lässt sich doch nicht für eine solche

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