Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
nichts. Þórdís hält sich kerzengerade, ihr ist nichts anzumerken, Jens folgt ihnen und fühlt Schmerz, Ohnmacht und Erniedrigung bei jedem Schritt. Sie haben den größten Teil der Strecke hinter sich, als der Junge Álfheiður sieht und einen Mann an ihrer Seite. Er trägt das Kind huckepack, seine Kraft ist selbst aus dieser Entfernung zu sehen, und er sieht beim Näherkommen immer besser aus. Sie reden miteinander, lächeln, und es ist natürlich gut, dass in dieser Welt Menschen noch lächeln können, Lächeln kann die Dunkelheit zerteilen, es erleuchtet die Welt, aber trotzdem zieht sich das Herz des Jungen zusammen und wird zu einem flachen Stein. Später geht er zum Ufer und lässt das Herz übers Wasser flitschen, es hüpft einige Male und geht dann unter, und er ist dieses alberne störende Organ los.
Der Mann ist einer von den Norwegern aus der Walfangstation, eine wichtige Stimme im Chor, Álfheiður war geschickt worden, um ihn zu holen, und es ist ihr nicht gerade lästig gefallen. Die Kleine hat ihren Spaß auf den Schultern des Mannes. Sie grinst von einem Ohr zum andern und hält sich an seiner dichten Mähne fest, aber ihr Lächeln vergeht, als er sie vor der Kirche absetzt. Da ragt alles wieder so hoch auf, und die Menschen werden zu Riesen. Sie senkt den Blick, ist zu schüchtern, um aufzublicken, und das ist schade, denn wenn uns etwas retten kann, dann sind es die Augen einer Dreijährigen, das Kostbarste, was die Menschheit besitzt, das Verletzlichste und das Stärkste lässt sich gleichermaßen in den Augen eines dreijährigen Kindes finden. Wir sollten nie eine wichtige Entscheidung treffen, bevor wir nicht in solche Augen geblickt haben. Ihre Mutter versteckt die grünen Augen dagegen keineswegs, sondern verschwendet sie geradezu an diesen Norweger, an diesen großen und kräftigen Kerl mit geschmeidigen Bewegungen, strahlend blauen Augen, dichten, dunklen Haaren, einer angenehm dunklen Stimme und gesunden, vollständigen Zähnen, die er gern zeigt. Wahrscheinlich habe ich Norweger schon immer gehasst, denkt der Junge. Sie tragen das Harmonium in die Kirche, sperren den Regen und die Hunde aus.
Ásta liegt in ihrem Sarg, sie ist tot, vermisst ihre Kinder. Der Junge nimmt schnell Platz und konzentriert sich darauf, alle Norweger und alles Norwegische zu hassen, das Fjell, die Wälder, die Tiere, den Finger, den Rektor Gísli manchmal mit sich herumträgt, die Walfangstationen und die Fangschiffe, die sich hier in den Fjorden herumtreiben, die am Strand verrottenden Walkadaver und Eingeweide. Dann beginnt Steinunn auf dem Harmonium zu spielen. Um ihm die Kälte auszutreiben, wie Steinunn sagt. Der alte Pastor aber kratzt sich am Kopf und wundert sich, wie viele Chormitglieder mit Abwesenheit glänzen.
Sie holen für mich Leute ab, erklärt Ólafur, und Sigurður kommt zurzeit nirgends hin.
Was? Wieso?, fragt der Pastor, weil Sigurðurs Ausfall kaum zu ersetzen ist, er ist nämlich der Vorsänger, die wichtigste Stimme, schön wie Dunkelheit oder Silber im Schatten.
Er ist blau, der elende Kerl, sagt Þórdís.
Ich fürchte, das stimmt, bestätigt Ólafur.
Er ist eben ein elender Kerl, bekräftigt Þórdís, und er hat sein Leben lang kaum einen ehrlichen Handschlag getan. Kann man da etwas anderes erwarten?
Steinunn spielt, um das Harmonium einzuspielen und ihm die Unsicherheit auszutreiben.
Arbeit adelt den Menschen. Sprichwörter, Redensarten bewahren die Weisheiten alter Zeiten auf, sind das Destillat der Lebenserfahrung vieler Generationen, die verdichtete Botschaft der Vergangenheit an die Gegenwart, in die richtigen Worte gegossen, gefeilt und poliert, damit sie nicht vergessen werden, nicht verloren gehen, die Zeiten überdauern; wo wären wir auch ohne das Wissen der Vergangenheit? Arbeit adelt den Menschen, ganz richtig, aber auch kompletter Unsinn. Die Arbeit erhält uns vielleicht am Leben, doch was adelt, ist das Opfer, ist die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Selbst zu übersteigen, zur Stelle zu sein, eine ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Was sind wir denn ohne Gesang?, fragt der Pastor, nachdem sie eine Weile zugehört haben, und er starrt mit einem Ausdruck vor sich hin, als würde er sich plötzlich an alles erinnern, was er im Leben verpasst hat, daran, dass das Leben bald zu Ende geht, dass er sein Leben gelebt hat und dass es war, wie es war. Wo sind Schönheit, Großartigkeit, Abenteuer? Vielleicht denkt er an seine Frau, die krank vor Altersschwäche zu
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