Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Sünden aus unserer Zeit in Kopenhagen, erklärt sie. Acht Jahre haben wir da gewohnt. Manchmal vermisse ich die Unruhe, die große Menschenmassen mit sich bringen, mir fehlen die Türme, die Theater, die Konzerte.
Nachdenklich sieht sie den Jungen an, erkundigt sich dann nach Geirþrúður, behutsam, als wisse sie nicht genau, wie sie fragen solle. Wie lebt es sich denn bei ihr?, versucht sie es.
Gut, ist alles, was er zur Antwort gibt, und er möchte unbedingt die Bücher anfassen, traut sich aber nicht, während sie ihn so anblickt.
Geht mich ja auch alles nichts an, sagt sie schließlich, nachdem sie drei oder vier weitere Fragen gestellt und Antworten gehört hat, die eigentlich keine Antworten sind. Die Frau soll meinetwegen leben, wie sie will, aber auf eine solche Frau ist man unwillkürlich neugierig, auf Menschen, die anders sind. Du darfst die Bücher übrigens ruhig anschauen, setzt sie hinzu, und da tut er es auch, er nimmt die alten Sünden aus der Stadt Kopenhagen zur Hand, die Steinunn vermisst, und anstatt ihn weiter nach Geirþrúður auszuhorchen, erzählt sie von ihrer Zeit in Kopenhagen vor dreißig Jahren. Sie setzt sich auf den Stuhl vor dem Harmonium, dreht ihm den Rücken zu und erzählt von vergangenen Zeiten, die sie mit ihrem Mann schon zigmal wieder aufgewärmt hat, wenn der Winter wieder einmal so lang ist und die Dunkelheit so dicht, dass das Licht kurz vor dem Erlöschen zu stehen scheint, ja, dann haben sie von vergangenen Zeiten geredet, gewisse Stunden noch einmal durchlebt, manche so oft, dass sie fadenscheinig wurden wie ein teures Kleid, das durch zu häufiges Tragen seinen Reiz verliert. Jetzt aber hat sie ein neues Paar Ohren vor sich, und das ändert alles, fast ist es, als habe sie einiges noch nie wiederholt. Wenn doch nur Ólafur hier wäre, um das mitzuerleben! Sie erzählt, der Junge hört zu, und dann spielt sie auf dem Harmonium. Sie dreht sich um, tritt die Pedale und spielt Töne, die aus ferner Nacht, aus einer warmen Dunkelheit zu kommen scheinen. Musik schafft uns mehr Raum in der Brust, sie kann neue Himmel erfinden, neue Hoffnung geben, ohne sie ist der Mensch arm.
Gott, ist das ein Jammerkasten geworden, sagt Steinunn, nachdem eine Weile vergangen ist und der Junge sich in eine Geschichte Russlands auf Dänisch vertieft hat, von der er zwar kaum die Hälfte versteht, die er aber trotzdem nicht weglegen kann.
Jammerkasten, wiederholt sie noch einmal und streicht liebevoll über das Harmonium. Manchmal muss man es auch bei schlechtem Wetter in die Kirche hinüberschaffen. So etwas bekommt einem Instrument nicht gut. Morgen werde ich etwas für deine Ásta spielen, dafür sollte es noch ein bisschen eingespielt werden, sagt sie und übt weiter, der Junge liest etwas von einem äußerst nervenschwachen jungen Mann, wohl ebenso alt wie er, aber der Russe scheint hungrig, unterernährt und in schlechter Verfassung zu sein. Draußen in der Welt geht es Menschen also auch schlecht. Sie leiden Hunger und sind arm, das Leben ist lang und schwer. Hinter der Fensterscheibe geht der Schneeregen langsam in Regen über, in dichten Regen, der Maiabend ist fast dunkel, und es ist schon spät.
Ich hoffe nur, dass sich Ólafur bei dem nassen Wetter nicht erkältet, sagt sie, hört auf zu spielen und schließt den Deckel. So entsteht ein Kasten um eine schweigende Ewigkeit. Sie gehen aus dem Zimmer, und da sitzt sie auf der untersten Treppe mit einem schlafenden Kind auf dem Schoß, einem kleinen Mädchen von drei Jahren mit feinem, blondem Haar, das mit offenem Mund atmet; seine kleinen Hände halten Álfheiðurs braunes Kleid fest und lassen nicht einmal im Traum los.
Warum sitzt du denn hier, Kind?, fragt Steinunn überrascht. Was ist denn passiert?
Ich dachte, bei Musik würde sie schneller einschlafen, antwortet Álfheiður, steht behände auf, um das Kind nicht zu wecken oder um den Jungen zu ärgern, der anschließend lange braucht, um einzuschlafen, und sich herumwälzt, so geschmeidig weich hat sie sich erhoben und ihm einen kurzen Blick zugeworfen, aus grünen Augen.
Hoffentlich komme ich morgen von hier weg, murmelt er ins Kissen, steht auf, sieht hinaus in den Regen, der den Abend so verdunkelt, dass man das Schiff draußen gerade noch erkennen kann, und dann kommt die Nacht, die Nacht, die Nacht.
XI
Der Frühling und seine Helligkeit kommen durch den Regen und wecken den Jungen. Lange steht er barfuß am Fenster, kalte Dielen unter den Füßen, und blickt
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