Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
hinaus in das regengraue Licht auf durchsichtige Tropfen, die den weißen Schnee durchdringen.
Jens ist nicht zu sehen. Jemand hat sein Bett gemacht, Þórdís oder Álfheiður, mein Seelenbeistand, denkt der Junge, denn jetzt weiß ich, was ich will. Dann geht er nach unten, und da sitzt Jens, reisefertig. Ganz egal, was Ólafur davon hält: Es spricht alles dagegen, dass du jetzt aufbrichst, jegliche Vernunft.
Aber Jens antwortet nichts, trinkt bloß den Kaffee, den Þórdís ihm bringt, wobei sie ihn wie unabsichtlich berührt, diesen großen, schweigsamen Mann.
Aber in diesem Land hält man es ja nur selten für klug, sich nach der Vernunft zu richten, sagt Ólafur ungewöhnlich scharf, doch Jens kann nichts etwas anhaben, und Þórdís bemerkt: Es gibt doch noch so etwas wie Männlichkeit, noch ist sie nicht ganz verschwunden, und so lange gehen wir nicht unter. Wieder streift sie Jens, denn es ist schön, zu berühren, was groß und kräftig ist. Steinunn bemerkt es und sieht weg.
Und ich habe gehofft, diese Männlichkeit hätte genügend Menschenleben gekostet, meint Ólafur müde und lehnt den Kopf gegen die Wand. Darum hat sie sich ja nach Kräften bemüht.
Das stimmt, sagt der Junge unerwartet und so eifrig, dass er aufspringt, obwohl er sich gerade erst gesetzt hat, als wolle er nun eine Rede halten, und die anderen vier sehen ihn verwundert an, das Arztehepaar, Þórdís und Jens, der matt lächelt.
Wenn ich es schaffe, gehe ich heute, verkündet er, nachdem der Junge sich wieder gesetzt hat. Ich habe es eilig, fügt er noch hinzu, und Þórdís streckt die Hand vor, wagt es aber nicht, ihn noch einmal so ohne Vorwand zu berühren, und zieht die Hand zurück, begegnet dabei Steinunns Blick, und ihr Gesicht versteinert. Ólafur seufzt, er ist von einem anstrengenden Hausbesuch bei einer jungen Frau mit einer schwierigen Geburt zurück. Er hat ihren Mann nach Norden begleitet, die ganze Schlucht hinauf, durch eine schwer passierbare Enge, sie kamen nur langsam voran, der Schneeregen ging in Schnee über, Schnee wurde wieder zu Schneeregen, im undeutlichen Dämmerlicht der Frühlingsnacht marschierten sie über die Hochebene, hörten aber auf dem Weg bergab Goldregenpfeifer, zwei Stück, und das war eine solche Überraschung, dass Ólafur anhalten und sich setzen musste, bis er ausgeweint hatte. Er hatte den Kopf gesenkt, um es vor dem Bauern verborgen zu halten, der unruhig in Richtung seines Hauses in den Schneeregen starrte, als wollte er seinen Blick vorausschicken, damit er über das kleine Fenster seiner Frau striche; er ballte und öffnete die Finger in den Fäustlingen und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, den Arzt nicht anzubrüllen, er solle sich gefälligst später ausruhen, sein Verschnaufen hier im Gebirge könne für seine Frau den Tod bedeuten, und dann seien zwei Kinder ohne Mutter, das Neugeborene wahrscheinlich das dritte, und er stehe dann mit seiner kränklichen Mutter allein da. So starrte er in die Nässe, und beide hörten sie wieder den Regenpfeifer. Ólafur beugte sich vor, als wollte er sich auf alle viere niederlassen, und schniefte leise. Der erste Regenpfeiferruf des Jahres! Ungewöhnlich spät, sogar für diese Gegend hier, ein paar hohe, leicht melancholische Töne durch Regen und Schnee, doch vielleicht gibt das Leben niemals auf, und möglicherweise ist es nie so kräftig wie im Ruf eines Vögelchens in einem kalten Frühjahr.
In der Küche schlägt Ólafur die Augen auf. Es ist ihm gelungen, die Frau und das Kind zu retten, danach musste er noch zu einem anderen Hof, vier Wegstunden entfernt; die Familie fast vollzählig bettlägrig und unterernährt, der Bauer schon beinah blau angelaufen, etwas anderes als ungenießbare Vögel hatten sie seit Wochen nicht gegessen. Ólafur hat gleich nach seiner Rückkehr Leute losgeschickt, sieben Mann mit einem großen Schlitten, um die Familie in den Ort zu holen. Einer sollte dort bleiben, um sich der Tiere anzunehmen und die zu töten, die es nicht mehr schaffen konnten, die übrigen sechs würden mit der Familie zurückkommen und sich unterwegs bestimmt nicht langweilen, denn der Bauer und seine Frau kannten eine Unmenge an Geschichten, Liedern und Gedichten, und sie würden sich in Begleitung sicher noch steigern, die Gesellschaft würde ihnen Kraft geben.
Wir machen uns dann anschließend auf den Weg?, vergewissert sich der Junge.
Ja, sieht so aus. Mit dem Schiff, das angekommen ist, um etwas an Bord zu
Weitere Kostenlose Bücher