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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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nehmen.
    Vorher aber soll sich der Junge noch nützlich machen und mit anfassen, um das Harmonium auf ein eigens dafür gezimmertes Gestell zu heben und es darauf in die Kirche zu tragen. Durch Regen, Schnee und Matsch.
    Wir haben acht Grad, sagt Steinunn und hat es schon in das Wetterjournal eingetragen, das sie seit achtzehn Jahren führt und in dem sie Windrichtung und -stärke, Temperatur, Wolken und Richtung der Wellen festhält, all die Tatsachen, die wir unbedingt wissen müssen und die wir nutzen, um die Welt zu erklären und das Leben zu ertragen, die kleinen, unbedeutenden Tatsachen, die eigentlich nichts erklären. Reine Wetteraufzeichnungen waren es auch nur die ersten zwei, drei Jahre, seitdem hat sie dem drängenden Verlangen nachgegeben, auch ein paar Tagesereignisse zu notieren, und manchmal sogar in einem Nebensatz, wie ihr Herz momentan schlug. Morgen wird sie etwas über den Jungen schreiben, darüber, wie er am Bücherregal stand, etwas über seine Augen, die sie wohl nur mit Mühe wieder wird vergessen können, und etwas über Þórdís, die diesem Jens nachgucken musste, ohne ihn noch einmal berühren zu dürfen, aber auch darüber, dass Þórdís im Leben so viel versäumt hat, dass sich ihr Herz darüber verhärtet hat, vielleicht aus Bitterkeit, vielleicht aber auch nur, um das auszuhalten und zu überleben. Manchmal ist es eigentlich unerträglich, dass ich so viel Mitleid für sie empfinde und nicht den Mut aufbringe, sie zu entlassen, schreibt Steinunn und fügt dann noch etwas über den Gesang der Vögel auf dem Berg hinzu, und was er für den Menschen bedeutet. Sie schreibt, neun Bücher hat sie schon vollgeschrieben, und es werden noch einige mehr, sechzehn Stück insgesamt, die alle erhalten bleiben; das Leben, das ihre Worte aufbewahren, findet den Weg zu uns.
    Es dauert, das Harmonium nach draußen zu tragen. Im Haus ist es an manchen Stellen so eng, dass nur zwei Personen anpacken können, der Junge und ein Mann, der aus dem Nachbarhaus zu Hilfe gerufen wurde, der Junge hat seinen Namen im gleichen Moment wieder vergessen, als er ihm genannt wurde. Der Mann ist schweigsam, guckt meist vor sich auf den Boden, will vielleicht eine spöttische Miene verbergen und tritt heimlich zweimal gegen das Harmonium, um sein Missfallen auszudrücken. Jens muss sich damit abfinden, nur zuzusehen, und es fällt ihm schwer, so geschwächt zu sein, er schafft es gerade mal, sich auf den Beinen zu halten. Der Junge hört, dass Þórdís eine Bemerkung über ihn fallen lässt, zwar versteht er nicht, was sie sagt, aber ihr Tonfall entgeht ihm nicht, und er ärgert sich, pumpt sich mit Verwünschungen und Kraft voll und ist am Ende schweißgebadet und stolz, als es ihnen endlich gelingt, das Ungetüm nach draußen zu bugsieren.
    Gut, gut, sagt Ólafur.
    Steinunn beeilt sich, das Harmonium abzudecken.
    Wir sollten vielleicht noch zwei Mann Verstärkung holen, spekuliert Ólafur und greift sich ans Kreuz.
    Du trägst doch schon das leichteste Ende, sagt Steinunn, und versuchst, deinen Rücken zu schonen.
    Sie beziehen Aufstellung an der Hausecke, der Junge, der Schweigsame, Ólafur und die säuerlich dreinblickende Þórdís.
    Es ist ein ordentliches Stück bis zur Kirche, durch nassen Schnee. Sie bücken sich gerade, als sie einen barhäuptigen, groß gewachsenen Mann durch den Schnee heranstapfen sehen; er hat graues Haar und einen mächtigen, grau gesprenkelten Bart und fast schwarze Augen. Er ruft etwas und scheint aus welchem Grund auch immer unglaublich fröhlich zu sein. Þórdís hält nach der möglichen Quelle seiner Freude Ausschau, hat aber nicht die richtigen Augen dafür.
    Ich glaub’s ja nicht, sagt der Junge verdattert. Denn da kommt Brynjólfur, der Kapitän von Kaufmann Snorris Kutter Hoffnung , und diesmal hat er keine Fahne, als er den Jungen umarmt und ihn mühelos in die Höhe hebt wie einen leeren Sack.
    Jetzt geht der Transport natürlich leichter von der Hand. Der Käpt’n packt an Ólafurs Stelle mit an, der sich wie zur Entschuldigung wieder ans Kreuz greift.
    Steinunn streichelt ihm über die Schultern. Ist schon in Ordnung, sagt ihre Hand. Nicht deine Muskeln beweisen dich als Mann, das haben sie nie getan. Das Instrument samt Gestell ist ganz schön schwer. Der Junge und der Schweigsame, der in regelmäßigen Abständen ausspuckt und keucht, spüren es gehörig. Brynjólfur schaut sich dabei noch um, als müsste er Zeit totschlagen, von einem schweren Gewicht weiß er

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