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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Hause liegt, an manchen Tagen, an den ganz schlimmen, scheint schon leichter Verwesungsgeruch von ihr auszugehen; Tag für Tag und Nacht für Nacht liegt sie da und leiert alte Strophen herunter, die sie seit gut siebzig Jahren auswendig kann, die sie zum ersten Mal im Alter von zwei Jahren mit ihrer Mutter in Geborgenheit und der unendlichen Welt der Kindheit gesungen hat. Er hat sie einmal geliebt, das ist wahr, aber nur für kurze Zeit, höchstens ein, zwei Jahre, ihr langes, blondes Haar, das an Sonnenschein erinnerte, an die Helligkeit des Frühlings, er hat ihre üppigen Lippen geliebt, die beim Küssen so weich waren, ihre lächelnden Augen, die kleinen Brüste, die so gut in seine gewölbten Hände passten, die Brustwarzen richteten sich auf, sobald er sie berührte, und das tat er oft und dachte, er würde nie genug davon bekommen, aber dann kam es doch so – irgendwann hatte er genug von ihr, mehr als genug. Wer hat die Liebe gestohlen, fragt er sich, und warum schon so bald? Wenige Monate, höchstens ein, zwei Jahre später hat er schon damit angefangen, anderen Frauen nachzuschauen, sein Leben war ein lebenslanger Kampf, seine Augen bei sich zu behalten. Zu mehr als zu Blicken brachte er den Mut nicht auf oder hatte ein zu schlechtes Gewissen dafür; manchmal verwechseln wir das ja, Feigheit und schlechtes Gewissen, und das ist nicht gut. Ich habe das Leben vorbeiziehen lassen, ich habe es nie beim Schopf gepackt, nur ein einziges Mal für kurze Zeit, es ist mangelnder Mut, sich nicht zu trauen, das Leben zu leben, Feigheit. Was wird Gott dazu sagen? Ruft mich jemand?, denkt er und blickt zögernd auf, hat Zeit und Ort vergessen, sich in der ersten Bankreihe niedergelassen, unmittelbar vor dem Sarg, und den Räuchergeruch eingeatmet. Þórdís steht vor ihm, ein energisches Weib, daran fehlt es ihr nicht, mit ansehnlichem Busen, daran ist auch nichts auszusetzen, aber guck in ihr Gesicht, ermahnt er sich, sie ist ein Kind deiner Gemeinde und bedarf deiner geistlichen Führung, du darfst andere nicht im Stich lassen, auch wenn du dich selbst im Stich gelassen hast. Und er hebt sein altes Haupt, die umschleierten Augen blicken unter den buschigen, grauen Brauen hervor.
    Þórdís, kann ich etwas für dich tun, meine Liebe?, fragt er und kommt im gleichen Moment wieder zu sich, er nimmt wahr, wo er sich befindet, und erinnert sich an alles. Er erhebt sich mühsam. Wir kommen auch ohne Stimmen zurecht, sagt er und versucht, klar und deutlich zu sprechen, die Blicke der anderen ignoriert er.
    Ich kann singen, ich habe eine ganz ordentliche Stimme, sagt Brynjólfur. Jens tritt dagegen unwillkürlich einen Schritt zurück.
    Die Zeremonie dauert nicht lang; nur ein paar Worte über Tod und Leben, altbekannte Worte, nur zu altbekannt, aber es macht nichts, wenn wir immer dieselben Worte benutzen, die altbekannten Wege einhalten, der Weg vom Leben zum Tod wird doch nicht länger, wir durchdringen die Dunkelheit nicht besser, finden keine Auswege, sondern halten an und werden allmählich zu blassen Schatten.
    Ásta hat sehr viel Besseres verdient als alte, verbrauchte Worte und zahnlose Gedanken, denkt der Junge. Dann kann er leider nicht mehr denken, denn sie setzt sich direkt neben ihn, die mit diesen Augen, ihr verteufeltes Haar ist genauso kurz wie gestern; sie setzt sich mit ihrem Kind neben ihn, obwohl es genügend Platz gäbe. Jens sitzt in der zweiten Bankreihe ganz am Rand, der Schweigsame mit dem spöttischen Gesicht in der hintersten am Gang. Er schließt die Augen und versucht, einzuschlafen, als ob er zeigen wollte, dass ihn das Ganze nichts angehe, weder die Lebenden noch die Toten, die Worte nicht, ihr kurzes Haar nicht und erst recht nicht ihr Ohrläppchen, das der Junge sehen kann, als er schnell einen Blick auf ihr Profil wirft. Er guckt sie rasch an, dann sofort wieder auf seine Finger, die zittern und untereinander murmeln: also so was haben wir ja noch nie erlebt. Der Chor tut sein Bestes, den Ton zu halten, aber das Harmonium braucht lange, um in Form zu kommen, und läuft ständig vorneweg, der Chor beeilt sich, zu folgen, bricht aber ab, als er schreiend falsch singt, und darauf ist nur noch das falsche Spiel zu hören, die Töne, die eine konzentrierte Steinunn dem Harmonium entlockt. Das hört sich manchmal an, als hätte das Instrument das Musizieren aufgegeben und jammerte nur noch über sein Schicksal, dem reinen Ton so fern zu sein.
    Álfheiður beugt sich zu dem Jungen, der aus

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