Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
irgendeinem Grund einen Kloß im Hals hat, und raunt ihm leise zu, während das Harmonium am grässlichsten quietscht: Solche Töne würdest du zu hören bekommen, wenn Gott uns als Instrumente benutzen würde.
Ist das der Grund für den Kloß? Dass der Mensch ein unvollkommenes Instrument ist, ein verstimmtes Harmonium, und daher so selten den reinen Ton in seinem Leben trifft?
Brynjólfur aber grinst die ganze Zeit über. Glücklich gibt er sich mit seinem tiefen Bass dem Singen hin, konzentriert sich ganz auf seine Stimme und verliert so auch nicht den Ton, und er lässt nicht einen Blick von Steinunn, als wäre sie das Beste, was er je gesehen hat.
Der kann singen, sagt Álfheiður.
Der Norweger?, fragt der Junge leicht angriffslustig.
Álfheiður lächelt. Nein, oder eigentlich doch, der auch, aber ich habe den Kapitän gemeint, den Dicken da.
Er heißt Brynjólfur, sagt der Junge. Ich werde nachher an Bord seines Schiffes gehen.
Ach, du fährst, sagt sie und sieht ihn an; es folgt nichts weiter. Stattdessen sagt die kleine Tochter, nachdem sie ihn eine Weile betrachtet hat und zu dem Schluss gekommen ist, ihm gegenüber nicht schüchtern sein zu müssen: Ich heiße Salvör. Willst du weit weg? Bist du da zu Hause?
Und er, der einmal eine kleine Schwester gehabt hat, die manchmal noch in seinen Träumen lacht oder weint, antwortet: Salvör ist ein schöner Name. Ich weiß nicht, ob ich irgendwo ein Zuhause habe.
Ich auch nicht, flüstert das Mädchen, und danach ist das Singen zu Ende, der Pastor hat ausgeredet, er hat die alten Worte beiseitegelegt, die alten Werkzeuge, alte Rechen mit wenigen Zähnen, die nur noch schlecht harken, und stattdessen setzt Steinunn am Harmonium wieder ein, sie ist schweißgebadet, spielt ein zweihundert Jahre altes Lied und vergisst alles in ihrem Bemühen, für die Frau, die hier im Sarg liegt, ihren Kindern, ihrem Mann und dem Leben weggestorben, einigermaßen sauber zu spielen. Das wenige, was die Lebenden für die Toten tun können, ist der Versuch, einen möglichst reinen Ton zu treffen. Das ist das Mindeste, es ist aber auch das Äußerste, was wir tun können.
Álfheiður wirft dem Jungen einen kurzen Blick zu, es ist nur dieser eine Blick, aber ein einziger Blick kann den Unterschied zwischen Glück und Verzweiflung ausmachen. So ist es, das haben wir gelernt: Es sind vor allem die kleinen Dinge, die unscheinbaren, in der Zeit kaum sichtbaren, die über alles oder nichts entscheiden.
Wie schade, dass niemand geweint hat, meint der Pastor, nachdem alles vorüber und der Sarg in seinem engen, flachen Grab untergebracht ist. Als sie ihn aus der Kirche trugen, mussten die Hunde wieder verjagt werden, besonders würdevoll war das nicht gerade, und Ásta war in dem für sie etwas zu breiten und zu langen Sarg verrutscht. Keiner der Anwesenden wird sie je vergessen. Nicht wegen der Trauer, die sie hinterlässt, wegen der Kinder, der Lichtstrahlen in ihrem Leben oder wegen ihrer Vortrefflichkeit, sondern wegen des Räuchergeruchs und der aufgeregten Hunde und weil sie im Sarg verrutscht ist, als sie ihn in die Erde hinabließen, und weil der Norweger unwissentlich ein altes Weihnachtslied vor sich hinsummte. Ich werde dich anders im Gedächtnis behalten, dachte der Junge. Der Norweger ist knapp unter eins neunzig und hält sich so prächtig, dass alle Isländer neben ihm verblassen. Der Junge beobachtet, wie Álfheiður eine rote Strähne hinters Ohr streicht.
Es ist immer besser, wenn auf einer Beerdigung jemand weint, sagt der Pfarrer, aber diesmal hat keiner geweint.
Anderswo weint jemand um sie, vielleicht jahrelang, sagt Steinunn. Dann tragen sie das Harmonium ins Haus zurück, jemand bringt den alten Pfarrer nach Hause.
Wie war’s?, fragt seine Frau und dreht sich im Bett um in der vergeblichen Hoffnung, dadurch die Schmerzen und die Monotonie etwas abmildern zu können.
Ach, sie roch dermaßen nach Geräuchertem, dass keiner um sie geweint hat, antwortet der Pastor. Ich fürchte, jeder von uns hat an geräuchertes Lammfleisch denken müssen, kein bisschen anders als die Hunde. Schwerfällig lässt er sich neben seiner Frau nieder und tätschelt ihr die Hand, nicht unbedingt, weil er es gern täte, sondern weil er einfach nichts anderes hat auf der Welt.
XII
Der menschliche Körper ist ein dummes Tier, das wir mit durchs Leben schleppen müssen wie eine schlechte Erinnerung.
Seit sie sich in der Kirche neben ihn setzte, hat das Herz des Jungen kaum einen
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