Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Anblick für dich, ein großer Haufen entstellter, blasser Wesen. Zeitweilig war die Verzweiflung das einzig Menschliche an uns, dann fanden wir einen vergessenen Dachboden in einem großen Haus oder einen anderen abseitigen Winkel und warteten dort, gequält von Erinnerungen, Reue und Selbstmitleid, in der vergeblichen Hoffnung, die Zeit würde uns, den Abschaum der Welt, irgendwann auslöschen. Dabei wussten wir kaum etwas von der Zeit, draußen in der Welt herrschten Krieg und Tod, dann wieder Friede und Alltag. Viele Jahre verstrichen in erstarrter Ereignislosigkeit, ganze Jahrzehnte, bis eines Tages eine schwarze Katze zu uns in die dunkelste Ecke kroch und fünf Junge zur Welt brachte. Abends ging sie manchmal auf Nahrungssuche, und auf einem dieser Streifzüge muss etwas passiert sein, denn die Katze kam nicht zurück, vielleicht war sie überfahren worden, und die blinden, nun mutterlosen Kätzchen, die sie zurückließ, sind immer noch die einzigen Lebewesen, die unsere Anwesenheit gespürt haben. Fünf kleine Würmchen, die zitternd vor Furcht, Hunger und Einsamkeit zu uns gekrochen kamen und auf etwas Wärme und Trost hofften, doch wir konnten ihnen weder das eine noch das andere geben. Eins von ihnen war pechschwarz mit einer schneeweißen Vorderpfote und erinnerte uns unangenehm an ein Kätzchen, das vor Unzeiten einmal ein fremder Kapitän aus dem Ausland mitgebracht hatte. Es ging als Letztes ein, nachdem es eine ganze Nacht durchgejammert hatte wie ein kleines Baby, mutterseelenallein auf der Welt, und konnte nicht begreifen, warum die Wesen, deren Anwesenheit es spürte, seine Einsamkeit nicht linderten. Wir haben es versucht, und das war das Traurigste von allem, denn zwischen ihm und uns stand etwas Unnennbares, das wir nicht übersteigen oder durchbrechen konnten. Ein blindes Kätzchen, schwarz und mit einer weißen Vorderpfote, starb, und das brachte uns dazu, wieder hinaus zu euch zu kommen, wir krochen aus unserem finsteren Versteck, weil wir einem sterbenden Kätzchen nicht zu helfen vermochten – ist das die Art und Weise, in der Gott in das Weltgeschehen eingreift, oder war es bloß Zufall, dass die Katze bei uns warf und dann verschwand, und ist Mitleid das Einzige, was den Menschen retten kann, ist es sein himmlischer Zug? Wir krochen heraus zu dir, weil uns die Dinge nicht kaltlassen und weil es uns nach Lösungen und nach Verständnis drängt. Ist das Paradies ein Ort, an dem Verstehen überflüssig ist, oder wäre das eher eine Beschreibung der Hölle? Das ist unser letzter Versuch. Zwischen dir und uns hat sich eine Kluft geöffnet. Vergangenes Leben kehrt zu dir zurück, vergessenes Wetter, verschwundene Augen, wir flüstern dir Geschichten voller Silber, Sehnsucht, Lachen und Grausamkeit zu, damit du dich erinnerst, es ist ein Feldzug gegen das Vergessen, unternommen auch in der Hoffnung, dass es in den Geschichten Worte gibt, die uns alle von unseren Fesseln befreien. Auch dich.
Das Leben, dieses großartige Instrument,
wurde vom Herrn nicht klangvoll oder
sorgfältig gestimmt
I
Der isländische Sommer ist derart kurz und launisch, dass man manchmal wirklich nicht zu glauben vermag, dass es überhaupt einen gibt. Hier kann es im Juni bis auf die halbe Höhe der Berghänge hinab schneien oder sogar bis unten ins Tal, und in einer Nacht können Vögel zwischen den Wiesenhöckern erfrieren. Aber nichts auf der Welt ist so hell und klar wie der Monat Juni, wenn Tag und Nacht miteinander verschmelzen, sämtliche Schatten aufgelöst sind und der Himmel mitten in der Nacht blau ist wie die Ewigkeit. Liegt es an der Helligkeit, dass sich die Zeit im Sommer endlos zu dehnen und der Sommer daher bedeutend länger zu dauern scheint, als es der Kalender anzeigt? Heute ist der hundertunderste Juni, sagen wir möglicherweise, wenn der Kalender erst den fünfzehnten zeigt. Der hundertunderste, und das Licht verlängert unser Leben.
Noch aber haben wir erst Mai.
Die Bekassine wirft sich im Sturzflug Wiesen und Buschwerk entgegen, produziert mit ihren Schwanzfedern die Töne des Sommers, und wir werden von Optimismus ergriffen. Die Sonne kommt mit jedem Tag näher, doch noch liegt Schnee auf den Berghängen, mächtige Schneebretter, blutende Überreste des Winters, die Erde ist weithin aufgeweicht, und die Verwehungen im hinteren Ende des Fjords schmelzen ein wenig zusammen. Der Junge läuft einige Male pro Woche dorthin, von Geirþrúðurs Haus bis zu den Schneehalden am Ende des Fjords in
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