Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
sehen, an manchen Stellen verwischen ihre Umrisse und zittern im gleichen Takt wie das kleine Tier in seiner Brust. Er muss dagegen ankämpfen, dass ihm schwindlig und übel wird, hört kaum etwas, bekommt nicht mit, was gesagt wird, bis sie auf einmal zu fünft in einem kleinen Boot sitzen, die drei Männer, die Tochter und sie. Álfheiður rudert. Mutter und Tochter lächeln beide, die ältere über die Anstrengung, die Kleine über das Leben. Álfheiður unterhält sich mit Brynjólfur, doch vor lauter Unruhe in den Bergen ist nichts zu verstehen. Der Junge entert als Letzter das Schiff, lächelt das kleine Mädchen an und erhält ein so schönes, reines Lächeln zurück – sogar Grübchen werden sichtbar –, dass der Schwindel etwas nachlässt. Er hört das Meer wieder und sein Saugen, sieht, wie Álfheiður Jens einen Brief überreicht und leise etwas sagt. Jens zögert, nein, zuckt zurück, begreiflicherweise, denn es ist kein Vergnügen, von derart grünen Augen und kurzen roten Haaren geliebt zu werden, erst recht nicht, da er ausschließlich an eine Frau denken soll, die jenseits der Berge und Heiden wartet.
Männer sind Viecher, hat sie zu Jens gesagt und geweint. Kann ich dir trauen?, hat sie gefragt, und Jens hat mit voller Überzeugung Ja gesagt, aber das Herz des Menschen hat zwei Kammern, es ist nicht aus einem Guss.
Jens schafft es kaum, auf das Schiff zu kommen, der Junge muss nachhelfen, vorsichtig, damit das Boot nicht kentert. Dann klettert er selbst an Bord, in dem Moment sagt sie etwas zu ihm und sieht ihn an.
Ich höre nichts, wegen der Berge, sagt oder denkt er, vielleicht ist das gar kein Unterschied, und in Gedanken oder laut setzt er noch hinzu: Die Berge vibrieren und erfüllen die Luft mit einem Pfeifen.
Er ist oben auf Deck angekommen, sie rudert davon, hastig.
XIII
Ein Schiff, das mit einer guten Brise segelt, ist wie Musik. Es knarzt im Tauwerk, das Segel wölbt sich im Wind, in dieser Luft, die unter Sonne und Sternen weht, und es hat aufgehört zu regnen. Die Hoffnung segelt dahin, weg von Sléttueyri, ein Boot bewegt sich aufs Ufer zu, von ihr gerudert, die Hände, die sein Anfang und sein bitteres Ende hätten werden können, halten die Ruder. Man wird geboren, um zu lieben, so einfach ist der Urgrund des Daseins. Dazu schlägt das Herz, dieser merkwürdige Kompass, mit dessen Hilfe wir uns in gefährlichsten Situationen auch in dichtestem Nebel zurechtfinden, seinetwegen verirren wir uns und geraten in freundlichsten Sonnenschein.
Er hat sie mit ihrer Tochter Hand in Hand zum Haus des Arztes hinaufgehen sehen, und das war schön. Danach waren sie im Haus verschwunden. Sie denkt an Jens oder an einen gut aussehenden Norweger, ich will sie vergessen, hat der Junge in den Wind gemurmelt, der ihm die Worte vom Mund nahm und sie in die blaue Luft wirbelte, die die Hoffnung zerteilt wie Musik. Sie lassen Sléttueyri hinter sich, diese verstreute Ansiedlung aus einigen in Schnee gepackten Häusern, die der Frühling endlich auftaut, und der Junge geht nach unten, um nach Jens zu sehen.
Jonni, der Koch mit der Glatze, hat sich erst einmal um den Postboten gekümmert. Er ist ein fröhlicher Kerl, der Jonni, so offenherzig und mit einem so lebendigen Mienenspiel, dass er selten seine Gefühle verbergen kann, ganz anders als seine Kameraden an Bord, die nie ihre Gefühle zeigen; sie können es gar nicht, oder sie wagen es nicht, außer wenn sie betrunken sind, dann platzt die harte Schale ab, und die Gefühle liegen peinlich offen zutage. Es war nicht zu übersehen, dass Jonni Jens’ Zustand überhaupt nicht gefiel. Er schaffte ihn, in eine Decke gehüllt, unter Deck, gab ihm etwas Heißes zu trinken, etwas Widerliches, das er selbst zusammengebraut hatte.
Schmeckt echt ekelhaft, gab der Koch zu, aber es hilft. Meine Oma hat meinen Großvater damit dreimal vom Tod auferweckt, und er hat es jedes Mal bedauert.
Jens trinkt das Gebräu, schüttelt sich dabei vor Kälte und Ekel und legt sich dann hin.
Ist dir kalt?, erkundigt sich der Junge. Die eine Hälfte seines Herzens hasst Jens, die andere mag ihn so gern, dass der Junge bald heulen könnte, schließlich sind sie gemeinsam durch die Hölle bis ans Ende der Welt gegangen, haben Lebende und Tote gefunden, und was sie miteinander verbindet, wird nie reißen; das Schicksal hat sie zusammengeknotet, und weder Mensch noch Teufel können diesen Knoten lösen.
Ich fühle mich wie in einer Gletscherspalte, faucht Jens, und er muss
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