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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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eigentlich beeilen sollte, zu seiner Vorlesestunde zu kommen, Kolbeinn dürfte schon ungeduldig sein, auf die verdammte Lauferei und den verflixten Bengel schimpfen.
    Er braucht dieses Laufen bestimmt, er ist doch so jung, versucht Helga den Kapitän zu beruhigen und den Jungen zu verteidigen.
    Er braucht das!, raunzt Kolbeinn. Der hat nur Samenkoller, soll er sich endlich mal ’ne Freundin zulegen, aber dieses alberne Laufen, das ist doch nicht normal.
    Draußen auf dem Wasser kurz vor dem Ufer beeilt sich die Ente, ihre normale Färbung wiederzuerlangen, und schnattert ohne Unterlass, wie sie es tut, seit wir sie kennen, und das ist, gemessen an der Lebensspanne eines Menschen, eine lange Zeit. Was hat sie denn so Dringendes auf dem Herzen? Predigt sie eine Litanei über das ewige Leben, das so leicht den Tod überwindet, oder leiert sie alte Weisheiten seit dem Anbeginn der Zeit herunter? Sollten wir vor dem Ende, das womöglich doch kein endgültiges Ende ist, denn nichts endet, solange sich der Himmel über der Erde wölbt und sie wie ein blauer Ton in einem schwarzen Universum schwebt, sollten wir die Sprache der Vögel lernen, die müde gewordenen Worte ablegen, diese abgenutzten Werkzeuge, und anfangen zu pfeifen und zu singen und zu zwitschern wie die Vögel? Welche Weisheiten über die Weiten des Lebens hat die Eiderente mitzuteilen? Oder hangelt sie sich zeitlebens eine Liedzeile entlang, die sie jahrtausendelang gedichtet hat, ihre schlichte, innige Ode an das Leben: Herrlich zu futtern! Herrlich zu futtern! Sie unterbricht nur kurz, wenn sie nach Futter taucht, erscheint eine halbe Minute später wieder an der Oberfläche wie ein Korken, kaut, schluckt und strahlt glücklich den Jungen an, der wieder aufgestanden ist, und fängt wieder von vorn an: Herrlich zu futtern, herrlich zu futtern!

II
    Mai!
    So viel zu tun, dass kein Tag lang genug erscheint, nie gibt es Hände genug, es gibt keine müßige Stunde, keinen stillen Flecken, und müde Menschen gehen unter imposanten Bergen zur Ruhe, wachen im Hellen auf und schlafen im Hellen ein. Überall wird gerufen, herrschen Bewegung, Wettstreit und Gelächter. Nur wenige grübeln und denken über den Abstand zwischen Gott und den Menschen, den großen Sinn oder Rechtfertigungen für die Existenz des Menschen nach. Wer in diesen geschäftigen und von Licht erfüllten Wochen seinen Gedanken nachhängt, wird einfach lachend umgestoßen und beiseitegeschoben, für so was ist hier kein Platz, seine Gedanken schwirren ziellos davon in diesem ganzen Leben und der ungedrosselten Arbeitskraft und Energie.
    Die Schule ist aus, alle Kinder sind in die Arbeit eingespannt, keine Zeit für dänische Erzählungen, schon gar nicht für lateinische Verszeilen, die Luft über dem Ort vibriert, es ist wie in der Hölle. Schulrektor Gísli aus der vornehmen Familie am Ort hält es nicht mehr zu Hause aus, die Unruhe ist bis tief in den alten Ortskern vorgedrungen, bis in das hübsche, kleine Holzhaus, in dessen Keller eine einfache Salzfischarbeiterin lebt und dafür eine so geringe Miete zahlt, dass es sich kaum in Zahlen ausdrücken lässt. Dafür macht sie bei Gísli sauber und kocht ihm hin und wieder etwas. Bis in sein Wohnzimmer mit den vielen Hundert Büchern und dem schweren Schreibtisch verbreitet sich die Unruhe, nicht einmal halb verrückte französische Dichter noch griechische Heroen halten ihn im Haus, das Vibrato des Lichts und der Betriebsamkeit treibt ihn hinaus, wo ihn das Treiben aufnimmt, die ganze Aufgedrehtheit der Leute, die Arbeit, der Salzfisch, der endlose Himmel. Kaum jemand nimmt sich Zeit für ein Schwätzchen, und die, die den Rücken aufrichten, reiben sich das schmerzende Kreuz und haben wenig Lust, ihre Zeit bei einem Plausch mit dem beschäftigungslosen Schulmeister zu vergeuden; es sei denn, er bringt das Gespräch auf Salzfisch, den gesegneten, vermaledeiten Salzfisch, auf dem wir unsere Existenz aufbauen. Der Teufel hat ihn erfunden, um uns endgültig verrückt zu machen, denn mir ist es doch völlig gleich, welcher Kutter oder welches Boot die größte Fangmenge anlandet, denkt Gísli und flüchtet ins Hotel Weltende , bloß nicht zu Ágúst und Marta ins Sodom . Da sitzen nur Seemänner und reden über nichts anderes als Fisch und Frauenhintern und lassen Marta gegenüber anzügliche Bemerkungen fallen, die ihnen dafür manchmal Ausdrücke um die Ohren haut, dass der blaue Maihimmel Brandflecken bekommt. Dieselbe Marta, die den Rektor im

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