Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
fauchen, um zusammenhängend reden zu können.
Du wirst schon nicht dran sterben, sagt der Junge oder vielmehr seine zweite Herzkammer, es gehört sich nicht.
Glaubst du, ich bin ein solcher Schwachkopf?
Dann schweigen sie beide, während das Schiff Musik ist, und brauchen nichts zu sagen. Glaubst du etwa, ich bin so blöd, zu sterben? Hinter den schneebedeckten Bergen, in denen es jetzt regnet, wartet die Frau, die ihn gefragt hat: Was tust du, wenn du zurückkommst? Mit dieser Frage hat sie ihn verabschiedet, und jetzt, in einer Gletscherspalte liegend, begreift er endlich, dass es für sie um Anfang oder Ende gegangen war, dass es dazwischen nichts mehr gab. Ich werde dich küssen, hat er geantwortet, wie ein Schwachkopf, und beinah sogar noch hinzugesetzt, fällt ihm jetzt ein, während er noch tiefer in der Eisspalte versinkt, ich werde dich küssen und sterben. Sterben und sie allein zurücklassen. Und noch weiter weg, hinter noch mehr Hochflächen, wartet sein Vater, alt, hinfällig, mit verschleierten Augen, die immer öfter in Tränen überlaufen, ganz unvermittelt und ohne erkennbaren Anlass, vielleicht drängt sich ihm zitternd eine Erinnerung auf, und es wartet seine Schwester Halla auf ihn mit ihren glasklaren Fragen: Wann kommt Jens? Warum kommt er nicht? Und sein Vater wälzt sich stöhnend im Schlaf vor Sorge und Angst, denn Jens hätte längst zurückkommen müssen, ohne ihn sind sie verloren, werden sie als Pflegefälle auseinandergerissen, die Welt der Menschen ist ungerecht zu den Schwachen, sie ist von Geldgier und Grausamkeit verdorben. Jens liegt in einer Gletscherspalte und reiht einen Fluch an den anderen, denn er will leben. Auch Bárður hatte leben wollen. Er hatte nach Kopenhagen gehen wollen mit Sigríður, die dunkles Haar und ein warmes Lachen hatte, warm wie eine Juninacht, ehe das Meer und der Frost alles kalt machten. Jetzt liegt Bárður in der Erde, und Sigríður hat ihm den vergessenen Anorak in den Sarg gelegt, als ob er im Jenseits noch einmal hinausfahren müsste. Munter und voller Kraft war er in den Winter aufgebrochen, ohne alles, und tot war er im Frühling zurückgebracht worden.
Der Junge geht wieder an Deck, zwängt sich in eine windgeschützte Ecke, guckt und denkt nach, während der Himmel aufklart und die Sonne zum Vorschein kommt, nicht weiß und kalt wie die Wintersonne, sondern als goldene Frühlingssonne. Der Winter zieht sich zurück und hinterlässt Massen von tauendem Schnee. Der Junge schaut nach Norden. Irgendwo hinter dem Horizont breitet sich das Eis aus, dahin zieht sich der Winter zurück und wartet geduldig darauf, dass ein kurzer Sommer vorübergeht.
Eine himmlische Saite des Menschen?
Der Mensch braucht so wenig im Leben: Liebe, Freude, Essen; dann stirbt er. Gleichwohl werden etwa sechstausend Sprachen auf der Welt gesprochen. Warum braucht es so viele, um so wenige einfache Bedürfnisse zu artikulieren? Und warum gelingt es uns trotzdem nur so selten? Warum erlischt das Leuchten in den Wörtern, sobald wir sie niederschreiben? Eine Berührung kann mehr sagen als alle Wörter auf der Welt; stimmt schon, aber eine Berührung verblasst mit den Jahren, und dann brauchen wir die Wörter wieder, sie sind unsere Waffen gegen die Zeit, den Tod, das Vergessen, das Unglück. Als der Mensch sein erstes Wort sprach, wurde er zu dem Fädchen, das ewig zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle flatterte. Worte haben die Axt an die Wurzel der Verbindung zwischen Mensch und Natur gelegt, sie waren die Schlange und der Apfel und hoben uns aus der schönen Dummheit der Tiere in eine Welt, die wir noch immer nicht verstehen. Die Geschichte besagt, einstmals, nahe am Anbeginn der Zeit, sei der Abstand zwischen Wort und Bedeutung kaum messbar gewesen, doch auf der Reise des Menschen hätten sich die Wörter abgenutzt und die Distanz zwischen Wörtern und Bedeutungen sei derart gewachsen, dass kein Leben und kein Tod sie mehr überbrücken könne.
Die Wörter aber sind das Einzige, was wir haben.
Bald ein Jahrhundert lang geistern wir hier als bleiche Schatten umher, tot, unsichtbar, allein. Andere, die starben, kamen unter die Erde und nie wieder nach oben. Das konnte sehr schmerzlich sein. Lippen, die wir geküsst hatten, Haar, über das wir gestreichelt hatten, Hände, die wir geschützt hatten, all das wurde begraben, kam nicht wieder, verweste. Wir aber sanken weder in die Erde, noch fuhren wir in den Himmel auf. Nein, wir wären mittlerweile kein schöner
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