Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
einem einzigen Dauerlauf! Ohne ersichtlichen Grund, aber praktisch in einem einzigen Spurt, die Augen weit aufgerissen. Er macht die Schafe und die Pferde scheu, besonders die Schafe; ein rennender Mensch kann nur Herbstabtrieb bedeuten, und sie nehmen Reißaus, sobald sie den Jungen erblicken. Helga bittet ihn, zumindest zu Zeiten zu laufen, in denen nur wenige unterwegs sind, frühmorgens oder spätabends, wenn er denn unbedingt meint, sich in dieser Weise betätigen zu müssen, und meistens entscheidet er sich für die Abendstunden, wenn die Helligkeit über der Welt eine Spur glanzloser geworden ist und Mensch und Tier nach einem langen Tag die Müdigkeit überkommt. Er läuft die zehn Kilometer bis zum Ende des Fjords und wieder zurück, doch nicht geradewegs zum Haus, sondern oben am Friedhof vorbei und hinab zum Strand in der Bucht, setzt sich immer auf denselben Stein und schaut aufs Meer hinaus, obwohl er vor Atemlosigkeit und jagendem Puls zunächst kaum etwas erkennt, aber er erholt sich schnell. Das Ufer ist an dieser Stelle nicht schroff, sondern weich, ein Streifen schwarzen Sandes kommt dort aus der Tiefe an Land, und der Strandkamm im Rücken des Jungen verdeckt die Ortschaft, das einzige Gebäude, das er sehen kann, ist der windschiefe Erdhöcker, in dem die alte Mildríður und ihr Sohn Simmi hausen. Simmi kommt oft vor die Tür und winkt dem Jungen glückselig zu, als ob das Leben nur gut und die Welt ein Freudental wäre. Dann winkt der Junge zurück, schaut sonst aber nur aufs Meer hinaus, während er sich vom Laufen erholt und der Geschmack von Blut im Mund nachlässt. Er blickt über das Meer, das ihm fast nicht mehr verhasst ist – wie sinnlos ist das auch? Als ob man den Himmel dafür hasste, dass er Frost und Kälte bringt. Er sieht die Winterküste, diesen lang gestreckten Gletscher, den einzigen auf der Erde mit Wiesen, auf denen Schafe weiden. Dort reicht der Schnee noch tiefer in die Niederungen hinab, hat aber auch da zu tauen begonnen, und unter dem Weiß kommt grünes Gras zum Vorschein. Frühling gibt es hier nicht und hat es in siebenhundert Jahren nicht gegeben; nach dem Winter beginnt gleich der Sommer.
Der Junge sitzt auf seinem Stein und denkt an die Leben, mit denen er an der weißen Küste in Berührung gekommen ist. Ob das kleine Mädchen immer noch hustet, ob es manchmal noch den Bogen Papier anschaut, den Jens für die Kinder dagelassen hat? Bestimmt haben sie ihn längst vollgemalt und -geschrieben. Hustet es noch, oder ist das Schlimmste eingetreten, und es liegt geduldig da, während sein wortkarger Vater den Sarg schreinert, mit Nägeln und Verzweiflung ein paar Bretter zusammenhämmert und eine kleine Kiste baut für das Größte und Zerbrechlichste, was die Welt je gesehen hat? Leb weiter, sagt der Junge auf dem Stein, er sagt es immer, jedes Mal. Leb weiter, sagt er zu den Wellen, die es den Fischen flüstern, die es dem Meeresgrund weitersagen, der es den Ertrunkenen zuraunt. Leb weiter, sagt er zum Himmel, der für die Worte von Menschen viel zu weit weg ist. Die Winterküste verdeckt den Blick auf Sléttueyri. Was wir nicht sehen, hat die Tendenz zu verschwinden, sich aufzulösen oder sich so weit von unserem Alltag zu entfernen, dass es mit unserem Leben nichts mehr zu tun hat. Manchmal geschieht aber genau das Gegenteil, und es verschwindet kein bisschen, sondern wächst und wird übermächtig, gerade weil der Alltag nicht daran heranreicht und ihm auch Schatten verleiht. Kurz gesagt, sie hat derart rote Haare, dass sie selbst durch die Berge sichtbar bleiben. Dabei sind diese Berge keine Kleinigkeit, sondern mächtig und hart, ihre Haarfarbe aber durchdringt sie mühelos, erreicht den Jungen und ändert alles; Himmel und Erde, alles wird rot wie Blut. Das Meer, der Himmel, die Wolken, wenn es welche gibt, die Bekassine wird zum Blutstropfen am Himmel, der winkende Simmi neben dem schiefen Torfhaus läuft blutrot an, das Haus selbst, der Rauch, der aus ihm aufsteigt, die Finger des Jungen und die Worte, die er zum Himmel spricht. Er steht auf, um auszutreten, und sein Glied ist feuerrot und der Urin auch, warum ist auf einmal alles so rot, murren die Ertrunkenen auf dem Meeresgrund, und der Junge stöhnt wie ein wundes Tier, fixiert eine Eiderente auf dem Wasser, verfolgt den auf und ab wippenden Vogel, bis das Rot abnimmt, verblasst und alles wieder wie vorher wird, nur ärmer. Er setzt sich und beobachtet weiterhin den Vogel, obwohl er weiß, dass er sich
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