Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Winter dreimal umarmt hat, als er ihr Bücher brachte, Bücher über Theologie und Geschichte, über Mord und Totschlag, Könige und Revolutionen. Dafür hat sie Gísli umarmt, und er durfte sie an sich drücken, spürte deutlich ihre großen Brüste und drückte noch ein wenig fester. Jetzt aber ist das Sodom voller Seeleute, und Marta hat weder für Gísli noch für Geschichtsbücher Zeit. Die Helligkeit treibt mich ans Weltende , sagt Gísli zu Teitur dem Hotelier, der stets mit unerschütterlicher Höflichkeit lächelt, obwohl er den Witz mit der Helligkeit und dem Weltende schon oft von Gísli gehört hat.
Im Hotel lässt sich das brausende Leben vergessen, vieles lässt sich zwischen seinen massigen Möbeln vergessen, und manchmal sitzt ein Ausländer da, der eine oder andere Reisende, von dem keiner sagen kann, was ihn überhaupt hergetrieben hat, Kapitäne großer Segelschiffe, die zwischen uns und der Welt verkehren, von Dampfschiffen oder von den Kriegsschiffen des dänischen Königs; daraus entspinnen sich manchmal lebhafte Unterhaltungen, die schon mal in ein so wüstes Gelächter münden, dass sich Teiturs Tochter Hulda lieber fernhält, soweit sie das kann. Das Bier aber ist teuer am Ende der Welt, überhaupt ist dort alles teurer, Whisky, Cognac, Essen, man muss für Unterschlupf und Komfort bezahlen, und wenn dieser Sommer wird wie der letzte, und danach sieht es bisher aus, dann wird Gísli schon Anfang Juli an die Freigebigkeit seines Bruders Friðrik appellieren und ihn anpumpen müssen, um das durchzustehen, bis der Himmel wieder dunkel wird und die Beeren an den Berghängen blau reifen. Es ist schrecklich, so auf den Knien in Friðriks Kontor zu rutschen, aber was soll man machen, wenn die Helligkeit mit ihren Gewehrläufen über einem hängt?
III
Wäre doch bloß Winter, wenn sich die Tage dahinschleppen wie waidwunde Tiere, wenn das Dunkel so dicht ist, dass die Menschen kaum von einem Haus zum anderen finden, und die Nacht so finster, dass du deine Hand verlierst, wenn du sie versehentlich ausstreckst, und du Stunden brauchst, um sie wiederzufinden. Wunderbar ist die Dunkelheit! Sie bietet Schutz, in dem du denken kannst, Höhlen, um sich zu verkriechen, ein Bett, um darin zu lesen, allerdings kann sie auch so düster sein, dass manches derart zerbricht, dass es sich kaum wieder kitten lässt. Dennoch ist das Dunkel tausendmal besser als die Helligkeit, die so leicht ist, dass du keine Stütze an ihr findest, weder Gedanken noch Träume haften an ihr. Sie breitet sich über den Himmel, lärmend wie eine Möwe, und alles, was sich regt, scheint dazu verdammt zu sein, ein Loblied auf das Leben anstimmen zu müssen. Wer nicht die Stimme dazu hat, sucht vergeblich nach einem Zufluchtsort. Der Sommer ist die Wartezeit vor der Dunkelheit.
IV
Péturs Frau Andrea, die Wirtschafterin in der Hütte seiner Bootsmannschaft, mit Bárður und dem Jungen befreundet, erwartete den Jungen, als er, vom Sturm, von Erinnerungen, rotem Haar und grünen Augen völlig verwirrt, vom Weltende am Dumbsfjörður zurückkehrte; allerdings hatte er im Kopf auch das Konzept für den Brief, den er Oddur dem Schneeschipper versprochen hatte, bevor er mit Jens zu der langen Wanderung aufgebrochen war. Es sollte Oddurs Heiratsantrag an Rakel sein, die viel im Salzfisch arbeitet und die beste und schönste Frau auf der ganzen Welt ist, jedenfalls auf Island – allerdings musste Oddur einräumen, dass er die Welt nicht besonders gut kannte, eigentlich gar nicht, und Island im Grunde auch nicht sehr gut, nur einmal war er südwärts bis in die Gegend von Dalir gekommen. Der Brief soll ein Ausruf des Lebens sein, des einfachen, klaren Lebens, und im kühlen Maiwetter auf dem Deck der Hoffnung hatte sich der Junge unter dem Auge der Sonne einen Entwurf ausgedacht. Eigentlich ist die Sonne größer als alles, was der Mensch sonst kennt, Auge Gottes, heißt es in einem Gedicht, und das stimmt, Gott ist einäugig, und das erklärt einiges, die Einäugigen sehen nicht so gut wie die anderen, ihnen fehlt die Vergleichsmöglichkeit.
Der Junge war mit seinem Entwurf sehr zufrieden, er konnte es kaum abwarten, an Land zu kommen, ins Haus des Kleeblatts Geirþrúður, Helga und Kolbeinn, und sich Stift und Papier vorzunehmen. Jens aber lag unten in der Kajüte, hustete und schlotterte in einer Gletscherspalte, zeitweilig war der große Mann völlig hilflos. Sich an Deck helfen zu lassen, lehnte er jedoch kategorisch ab und hielt sich
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