Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
wollten, aber hier ist eine Frau, die dich treffen möchte. Sie hat auf dich gewartet.
V
Andrea war etwa um dieselbe Zeit in den Ort gekommen, als Jens und der Junge oberhalb von Sléttueyri Hjalti im Sturm aus den Augen verloren hatten. Es war dem Sturm so leichtgefallen, auch einen derart großen Mann zu verschlucken, ihn von der Erdoberfläche zu putzen, er ließ kaum mehr zurück als Bestürzung in den Gedanken des Jungen und bei Jens sowie Sehnsucht und Vermissen in einer wettergebeutelten Hütte hinter den Bergen draußen am wilden Eismeer. Was ist der Mensch aber auch anderes als Erinnerung?
Andrea hatte Geirþrúðurs Haus ausfindig gemacht, was nicht sonderlich schwierig war, obwohl sie sich im Ort so gut wie gar nicht auskannte, ihr und Péturs Kaufladen befindet sich in einem anderen, kleineren Ort weiter im Süden. Sie war in die Schankstube getreten und hatte leise um eine Tasse Kaffee gebeten, anschließend saß sie mit der Handtasche auf dem Schoß da, blickte anfangs um sich, als suchte sie jemanden, schien zweimal Anlauf zu nehmen, Ólafía etwas zu fragen, ließ es dann aber doch und guckte sich auch nicht länger um, sondern saß einfach nur da, und der Kaffee vor ihr wurde kalt, eiskalt, stand schwarz und still in der Tasse, als hätte ihr jemand einen kleinen Schuss Tod eingeschenkt. Schließlich stand sie auf, es war recht voll und laut in der Schankstube, sie aber war grau im Gesicht, fast weiß, und stieß auf ihrem Weg nach draußen mit zwei Matrosen zusammen, als würde sie nichts mehr sehen.
Komm nur zu mir, sagte einer der beiden Seemänner, ich hab da etwas, das dir Spaß machen könnte.
Sie aber ging nach draußen und war schon auf der untersten Stufe, als Helga ihr nachrief. Ólafía und sie hatten Andrea beobachtet, denn nur selten verirrt sich eine Frau allein in die Wirtschaft, und dann hatte sie dagesessen, als hätte die ganze Welt sie vergessen. Es tut weh, wenn die Welt einen vergisst, sehr weh, die Schultern sinken nach unten, die Augen werden trüb, die Einsamkeit dringt in den Körper ein und fängt an, seine Zellen zu zerstören; genau so hatte Andrea dagesessen, und darum war Helga ihr nach draußen gefolgt und hatte gefragt: Kann ich dir helfen?
Andrea zuckte zusammen, umklammerte krampfhaft ihre Handtasche und sagte erst Nein, fragte dann aber nach dem Jungen.
In dem großen Haus neben der Schule gab es ein Zimmer für sie. Geirþrúður hatte es vor einigen Jahren gekauft und an ein paar Familien vermietet, gerade aber stand ein kleines Zimmer im Keller leer, die alte Frau, die darin gewohnt hatte, war an Grippe und an Einsamkeit gestorben.
Als der Junge eintraf, hatte sich Andrea schon in diese Kellerwohnung zurückgezogen. Wohnung konnte man es eigentlich nicht nennen, es war mehr eine Absteige, ein Unterschlupf, Verzweiflung.
Für den Anfang kannst du erst einmal bei uns arbeiten, hatte Helga gesagt, nachdem Andrea von sich erzählt hatte, dass sie gekommen sei, um den Jungen wiederzusehen, um ein neues Leben zu beginnen, sofern so etwas möglich sei, falls es ein anderes Leben für sie geben sollte. Ich weiß nicht, was ich tun soll, hatte sie gesagt.
Da ist eine Frau, die dich treffen möchte, sagte Helga und ging mit dem Jungen in die Wirtsstube. Gäste waren keine da, nur Ólafía, Kolbeinn und Andrea. Helga setzte sich gleich zu ihnen und nahm ein Gespräch mit Kolbeinn und Ólafía auf. Andrea und der Junge blieben voreinander stehen.
Vergiss mich nicht, Junge, hatte sie vor gut einem Monat in der Fischerhütte zu ihm gesagt und sich mit einem Kuss von ihm verabschiedet. Bárður hatte gleich neben ihnen gelegen und war nie mehr geküsst worden.
Ich habe deinen Brief bekommen, sagte Andrea.
Ich habe Pétur verlassen, sagte Andrea.
Der Junge schwieg und schluckte seine Beschämung hinunter. Er freute sich überhaupt nicht, Andrea wiederzusehen, im Gegenteil, er ärgerte sich und wurde wütend, was für ein mieser Kerl war er doch innerlich! Da stand sie derart verzagt und überhaupt nicht der Frau ähnlich, die er in Erinnerung hatte und der er jenen Brief geschrieben hatte. Ihr Gesicht war anders, alltäglicher. Was habe ich getan?, dachte er und versuchte, das Niedrige und Gemeine in ihm zu verbergen. Es gelang ihm auch, aber vielleicht nicht vollständig, jedenfalls blickte Andrea zur Seite, es war, als hätte jemand sie weggeworfen. Da verzog sich der innere Schweinehund, der Junge trat ein, ging zwei wertvolle Schritte vor und umarmte die Frau,
Weitere Kostenlose Bücher