Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
zum Donnerwetter. Ist doch wahr, sagt sie und gießt den Kaffee auf.
Dann trinken sie erst einmal Kaffee. Zwei ausgelaugte Frauen und ein Junge, der sich nicht muckst. Er hat die beiden Briefe geschrieben, derentwegen sie hier zusammensitzen, und trotzdem ist er außen vor, ein Störfaktor; am besten, er rührt sich nicht, zieht keine Aufmerksamkeit auf sich. Gísli marschiert vierzig Zentimeter über seinem Scheitel auf und ab.
Ich habe noch nie bei der Arbeit gefehlt, sagt Rakel nach einer halben Tasse. Ich war krank, hundemüde, aber zur Arbeit bin ich immer gegangen, habe nie gefehlt.
Das kann ich mir gut vorstellen, sagt Andrea.
Ich werde krank, wenn ich nicht arbeite, ich verliere meine Widerstandsfähigkeit, und trotzdem sitze ich jetzt seit zwei Tagen hier herum wie ein Jammerlappen.
Das ist nicht gut.
Heute Morgen war ich mir nicht mal sicher, ob ich noch leben wollte.
Niemand sollte sein Leben wegwerfen, es ist einem von Gott gegeben.
Sie schweigen. Nur Gíslis schleppende Schritte und seine an-und abschwellende Stimme sind zu hören.
Dabei ist er allein, sagt Rakel.
Und redet trotzdem so viel.
Er ist immer allein.
Das ist nicht gut.
Nein, wahrscheinlich nicht, meint Rakel. Ich putze bei ihm; meist wenn er nicht zu Hause ist. Er ist sehr gebildet.
Wir waren übrigens kürzlich bei Oddur, sagt Andrea und gießt Rakel Kaffee nach. Er sieht nicht besonders gut aus, und das ist noch geschmeichelt.
So? Hat er einen Unfall gehabt?, sagt Rakel langsam. Sie ist aufgestanden und guckt in die Luft, als hoffe sie, da etwas Angenehmes zu entdecken. Sie hat einen langen Hals und ein so schmales Kinn, dass man darauf kaum etwas platzieren kann, außer vielleicht einem Kuss.
Ein Unfall? So kann man es vielleicht auch nennen.
Hoffentlich nichts Gefährliches, bemerkt Rakel und hält noch immer nach etwas Schönem Ausschau.
Soweit ich weiß, könnte so etwas sogar tödlich sein.
Das tut mir leid, aber man muss aufpassen. Þorsteinn hat letztes Jahr nicht aufgepasst, ist ausgerutscht und in den Laderaum eines englischen Schiffs gefallen, der noch halb voll Kohle war.
Hat er sich schwer verletzt?
Er und seine Familie sind jetzt auf die Gemeinde angewiesen.
Oddur ist nicht in einen Laderaum gefallen.
Gut, ich hoffe, er fällt nicht der Gemeinde zur Last, sagt Rakel und guckt nicht weiter, sie hat es aufgegeben, etwas Schönes zu finden, vielleicht gibt es in dieser Welt nichts Schönes mehr zu entdecken, vielleicht ist alles Derartige verschwunden, wie das Glück und die Gesundheit von Þorsteinn. Da ist ein winziges Zucken um ihre Mundwinkel, kaum auffallend, aber der Junge hat gute Augen, ihre Lippen sind ein klein wenig vorgestülpt, als würden sie die Welt um einen Kuss bitten; der Körper geht seine eigenen Wege, das ist das Glück und das Unglück des Menschen.
Er hat sich nicht getraut, selbst zu kommen, sagt Andrea.
Wozu hätte er auch kommen sollen?, erwidert Rakel, erhebt sich und sagt: Am besten fange ich jetzt mit der Arbeit an, dann setzt sie sich wieder und fängt an zu schluchzen. Sie sitzt da an ihrem kleinen Küchentisch, zieht die Schultern in die Höhe und lässt den Kopf sinken, ihre geschwollenen Hände legen sich vors Gesicht, ihr Körper zittert, und der Junge muss an die fünf kleinen Kätzchen denken, die er als Zehn-oder Zwölfjähriger ertränken sollte. Sie waren noch blind, er nahm sie der Mutter weg, löste sie von ihren Zitzen und steckte sie in einen Leinenbeutel, trug ihn hinab zum Bach und hielt ihn fest im Arm, als wollte er ihnen noch einmal etwas Wärme geben, bevor die vollständige Dunkelheit sie verschluckte, er spürte, wie sie zitterten und maunzten, ehe er den Beutel in den frühjahrskalten Bach tauchte und da festhielt, bis seine Hände blau und taub vor Kälte waren, und jetzt schluchzt Rakel, als stünde das Schicksal mit einem Leinenbeutel vor der Tür, um sie zu ertränken.
Andrea: Ich sollte sagen, dass er jedes Wort ernst meinte, das in dem Brief steht.
Rakel: Ich habe noch nie so einen Brief bekommen.
Andrea: Ich weiß.
Rakel: Ich bin gerne fröhlich, dann lebt es sich leichter.
Andrea: Freude ist eine Gabe Gottes, die sparsam ausgeteilt wird.
Rakel: Manchen fällt es schwer, bei kaltem Wetter mit dem Auswaschen der Fische anzufangen. Wir müssen sogar erst eine Eisschicht aufschlagen und dann den ganzen Tag mit den Händen in dem eiskalten Wasser arbeiten. Vielleicht liegt auf den Bergen noch Schnee, oder es regnet, es kann Schneeregen geben
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