Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
murmelt Gísli. Er erkennt sie gerade noch aus der Distanz und sieht, dass sie die Blicke gesenkt halten und den Abstand zwischen sich wahren. Dann nimmt er seinen Spaziergang zum Ende des Fjords wieder auf und kommt an den Kühen des Ortes vorbei. Sie liegen alle wiederkäuend im Gras, schließen ihre großen, sanften und leeren Augen, schütteln nur ein paarmal die mächtigen Schädel, um Fliegen zu verscheuchen, regen sich aber ansonsten nicht, obwohl ein nach Milch dürstender Schulleiter vornehmer Abstammung vor einer von ihnen niederkniet, ihr ans Euter greift und sich einige kuhwarme Strahlen Milch in den Mund spritzt. Das sind die einzigen Brüste, die ich mittlerweile noch anfassen darf, sagt Gísli laut und blickt sich um, aber Oddur und Rakel sind natürlich längst entschwunden und werden zweifellos miteinander vögeln, wahrscheinlich in seinem Keller. Verdammich, der darf ran, dieser unterbelichtete, unansehnliche Schneeschipper! Wenn man nur Geld hätte, von hier wegzukommen! Ich sollte Rakel heiraten, murrt Gísli im Gehen und redet mit sich selbst oder mit seinem Spazierstock. Ich sollte mich beeilen, bevor der Idiot zum Zug kommt. Er hat doch seine Schneeschaufel, die reicht für ihn. Oh Gott, noch einmal auf einem heißen Frauenleib liegen zu dürfen! Dass Menschen einander lieben müssen, ist totaler Quatsch, völlig überbewertet. Warum reimt sich denn verliebt auf versiebt? Versucht uns die Sprache damit nicht etwas zu sagen? Dass die Liebe fast nie von Dauer ist, sondern eine Eintagsfliege?
Die Vögel sind erwacht. Zwei Goldregenpfeifer laufen vor Gísli davon, tippeln von einem Wiesenhöcker auf den nächsten und geben einzelne Töne von sich, so rein und zugleich schmerzerfüllt, denn der Sommer ist kurz, die Sonne zeitweilig viel zu lange verschwunden, und in schwarzen Felsen warten Raben darauf, dass der Mensch wieder abzieht; Eier sind doch was Leckeres, und nestwarme Küken sind es auch. Die Bekassine schraubt sich in den Himmel und streut ihre Sturzgeräusche über Wiesen und niedriges Gesträuch. Ich könnte im Sommer Séra Kjartan besuchen und ein paar Tage bei ihm bleiben, denkt Gísli, das wäre gut für Geist und Seele.
Er hat das Ende des Fjords hinter sich gelassen, der wie ein Dolch ins Land sticht. Dahinter erstreckt sich noch ein ansehnlicher Streifen Land aus Wiesen, Weiden und niedrigem Buschland mit einem gewundenen Fluss, bevor die Berge ansteigen, höher als das Leben. Verfluchte Berge, denkt Gísli und geht auf zwei Höfe zu, der eine ist bloß ein Erdhügel mit Türen, der andere schon etwas ansehnlicher, zur Hälfte aus Holz erbaut. Die Bewohner sind auch schon wach. Um ein feuchtes Moor zu umgehen, kommt Gísli so nah an dem Torfhaus vorbei, dass er eine Frau singen hört. Hier im hinteren Teil des Fjords ist es kühler und alles triefnass von Tau. Gísli aber gehört zu der vornehmen Familie und trägt entsprechend gute Schuhe, anders als die Leute auf dem Hof, die von dem Zeitpunkt, an dem der Boden auftaut, bis zu dem, wenn er wieder gefriert, ständig nasse Füße haben. Und jetzt ist alles so voller Tau, dass man sich nicht in einer weichen Senke niedersetzen und hinaus auf den Fjord gucken kann, ein bisschen über den Sinn und die Ewigkeit nachdenkt oder noch einmal kurz einen Blick in den Bildband wirft. Eine eigenartige Unruhe steckt ihm im Fleisch, seit er mit dem Album auf dem Friedhofswall gesessen hat, das Menschenleben ist ein langer Abnutzungskrieg gegen die Unruhe des Fleisches.
Gísli findet einen großen, flachen Stein, der nicht einzusehen ist, reibt ihn trocken, betrachtet die Bilder im Album und tut, was er tun muss, doch der Fjord liegt an diesem stillen Morgen so vollkommen spiegelglatt da, dass alles schön wird. Ein Mann und ein Hund kommen aus dem Torfgebäude, gähnen beide, schütteln sich den Schlaf aus den Gliedern und gehen austreten, eine Frau folgt ihnen mit dem Nachttopf in der Hand, sieht ihren Mann, stellt den Topf ab, schleicht sich von hinten an und legt die Arme um den Mann. Lass mich zielen, sagt sie, und der Mann lacht leise. Ihre harte Hand voller Schwielen greift zu und lenkt den Strahl. Sie sind seit mehr als zwanzig Jahren miteinander verheiratet, das Leben hat sie beide ausgelaugt, aber es ist trotzdem schön, zu leben. Sie lachen beide da auf dem Vorplatz, sie bewegt die Hand schneller, und er stellt die Beine weiter auseinander, denn so fühlt es sich schöner an. Danach küsst er ihr ausgebleichtes Haar und sagt etwas,
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