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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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das niemandem außer den beiden aufschreibens-und aufhebenswert erschiene, aber vielleicht trotzdem mehr wert ist als die ganze Kutterflotte von Tryggvis Landhandel. Das ist natürlich eine dreiste Behauptung. Es handelt sich um viele Schiffe, neunzehn an der Zahl, ein großes Imperium. Friðrik besitzt Anteile an vieren von ihnen, die krumme Stammmutter Karólína – die Zeit faltet sie zusammen, aber noch hat sie ganz schön Biss – besitzt einen gehörigen Anteil an dreien, und die wird Gísli einmal bekommen, wenn die Zeit ihr Vorhaben einmal vollendet haben wird; jedenfalls ist das Gíslis große Hoffnung und Friðriks Befürchtung. Freiheit!, denkt Gísli. Perlen vor die Säue, denkt Friðrik, und jeder sieht das Leben mit seinen eigenen Augen, weshalb es niemals möglich ist, von einem Leben oder von einer Welt zu reden.
    Gísli tritt den Rückweg an. Er schaut über den Fjord, fast weiß vor Stille und Schweigen, keine Wolke am Himmel, dafür steigt die Morgensonne hoch genug, um die Berge zu bescheinen, die leuchten wie Musik. Gísli marschiert ganz gelöst durch den Tau und die Stille, kommt wieder nah an dem Hof vorbei, diesem großen Erdhöcker, inwendig dunkel, in dem Menschen in Enge und verbrauchter Luft einschlafen und aufwachen. Pfui Teufel, brummt Gísli. Der Hund ist noch draußen, will unbedingt diesen Mann beschnuppern und vielleicht einen kurzen Klaps einheimsen, ist doch so schön, sich hinter den Ohren kraulen zu lassen, fast so gut wie ein unerwarteter Brocken Fleisch, aber er traut sich nicht ganz an den Mann heran, hat Respekt vor dem Stock; tut weh, Prügel zu beziehen. Gísli marschiert über den Fleck, an dem vorher das Paar gestanden hat, und weiß von nichts. Er denkt über das Leben und die Literatur nach, es gibt unter diesen hohen Bergen nur wenige, die so viel nachdenken wie unser Schulleiter, er weiß unheimlich viel über den Menschen, wer er ist, woher er kommt, wonach es ihn verlangt. Manchmal scheinen seine Augen mehr zu sehen als die anderer, er betrachtet alles aus einer höheren Perspektive und kann unser Leben in überraschenden Zusammenhängen sehen; selbst Friðrik vermeidet es, mit seinem Bruder in Disput zu geraten, außer wenn es um die Gesetze der Buchhaltung und die Gesetze der Macht geht. Leider besteht aber ein Riesenunterschied zwischen Denken und Leben. Es ist durchaus möglich, mehr zu wissen als alle anderen, das Leben zu kennen und es in eindringlichen Worten zu beschreiben, den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung zu kennen und trotzdem keine Ahnung zu haben, wie man das Alltagsleben meistert. Etwa so, als würde man sämtliche Noten kennen und könnte trotzdem nicht die einfachste Melodie pfeifen.
    Die morgendliche Stille, das Gehen und die Zeit auf dem flachen Stein versetzen Gísli in gute Laune, und er beschließt, der Druckerei einen Besuch abzustatten, ihr Meister, Ólafur, hat immer etwas in petto, und es tut gut, ein Näschen voll Druckerschwärze zu nehmen und den Geräuschen der Presse zu lauschen, die der jüngste der Drucker von der Fensterbank aus bedient und mit der er Wörter druckt, gesegnete, verfluchte Wörter. Heute sollen Gedichte des in Kanada lebenden Dichters Jóhann Magnús Bjarnason gedruckt werden. Sie retten vielleicht niemanden aus großer Not, sind aber ganz ordentlich. Gísli lächelt, atmet Wiesenhöcker und Morgen ein, biegt um eine hohe Wegkante und sieht den Jungen in hohem Tempo auf sich zukommen, mit weit aufgerissenen Augen läuft er so federnd leicht daher, als würde er kaum die Erde berühren und schweben. Er läuft von solcher Kraft erfüllt an dem Schulleiter vorüber, dass die Luft um ihn herum vibriert. Es liegen einige Meter zwischen ihnen, als der Junge ihn passiert, er dreht den Kopf in Gíslis Richtung, und dem ist für einige Augenblicke so, als würde ihn das Leben, die Jugend der Welt, der ewige Frühling ansehen, bebend vor innerer Kraft, vor Eifer und sämtlichen Möglichkeiten. Der Junge läuft vorbei und verschwindet, und alles wird wieder unangenehm still, nicht einmal eine Fliege ist zu hören, geschweige denn größere Tiere, denn in Gestalt des Jungen ist die Zeit selbst an Gísli vorbeigelaufen und hat ihn alt und unbrauchbar als leeres Gehäuse gescheiterter Träume zurückgelassen.
    Schwerfällig geht Gísli ein gutes Stück oberhalb der Strandlinie zum Ort zurück, findet irgendwann Deckung zwischen den Bülten und lässt sich dort nieder. Das Schwerste im Leben ist, dass man sich selbst

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