Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
und seiner Existenz niemals entkommt; man ist eingesperrt in ein Fach, in eine Welt, die dich niemals freigibt, außer vielleicht in vereinzelten Träumen, und dich sogleich wieder einholt, sobald du die Augen aufschlägst. Wie kann man das aushalten? Das Schwerste ist, wenn man nicht zu leben versteht, wenn man die Noten kennt, aber nicht die Melodie. Gísli sitzt zwischen weichen und feuchten Wiesenhöckern und sieht Möwen zu, die im Aufwind vor der Bergwand schweben. Die können es, die wissen, wie man schwebt, die Flügel ausruht, wie man lebt, und trotzdem haben sie nie einen Gedanken gedacht. Da schweben sie. Die Sonne steht über den Bergen auf der Ostseite, und die Möwen glänzen, die Sonne beleuchtet sie, und so sind sie auch aus größerer Entfernung zu sehen, sogar Gísli mit seinen vergleichsweise schwachen Augen erkennt sie. Er sieht ihnen zu. Dann zieht eine Wolke vor die Sonne, und es ist, als würde das Licht in den Vögeln ausgehen, sie verschwinden. Gísli leider nicht. Er sitzt da und muss sich selbst ertragen.
VIII
Du läufst, sagt Gísli.
Ja, ich laufe, antwortet der Junge.
Wozu?
Warum ich laufe?
Gísli antwortet nicht, er steht am Fenster und schaut hinaus in die Helligkeit, die durch das Fenster hereindringt und diesem gebildeten Mann so wehtut.
Der Junge kratzt sich am Kopf. Ich muss es einfach, sagt er.
Gísli guckt nach draußen und wartet ab.
Es macht mir Spaß.
Gísli wartet noch zu.
Beim Laufen bin ich frei.
Frei, äfft Gísli den Jungen nach. Was für ein Schwachsinn! Er guckt wieder nach draußen. Schreib!, sagt er in die Helligkeit hinaus. Grundgesetz, Paragraf zwölf. Anführungszeichen unten. Der König kann begnadigen und Amnestien gewähren, Punkt, Anführungszeichen oben.
Der Junge schreibt schnell, aber er hat den Satz noch nicht mit Abführungszeichen beendet, als an die Haustür geklopft wird. Da Helga in der Wirtschaft ist, geht der Junge zur Tür. Als er in den Flur kommt, hört er leise Geräusche aus dem Schankraum, wo sich um diese Zeit viele Gäste aufhalten; die Welt hat Bierdurst, die Sonne füllt das Himmelsgewölbe wie Vogelgesang, und außerdem sind gestern Abend spät noch zwei Schiffe eingelaufen, ein großer Segler, der so leise in den Fjord und ins Hafenbecken glitt, dass niemand es bemerkte, doch im Kielwasser der Stille war dann noch ein fauchendes, schnaufendes Dampfschiff gekommen, die laut lärmende Zukunft.
Ich habe letzte Nacht einen Dampfer gehört, hat Helga am Frühstückstisch gesagt, es könnte heute viel zu tun geben. Und so kam es auch, Matrosen vom keuchenden Dampfschiff und vom schweigsamen Segler stellten sich ein, eine beträchtliche Anzahl von Männern, die Zeit totschlagen und etwas zu trinken haben wollten, englische und dänische Seeleute; Andrea ist reichlich nervös und unsicher geworden, als sie beobachtet hat, wie Helga mit den ausländischen Matrosen umgeht. Aus der Fischerhütte hat sie ein einziges Buch mitgenommen, Jón Ólafssons Englischlehrbuch, und abends in ihrem Kellerzimmer liest sie darin, wenn sie allein ist, mutterseelenallein, der nächste Mensch bald vierhunderttausend Kilometer weit weg, wie der Mond, den die Frühjahrshelligkeit vom Himmel geputzt hat. Es ist schwer, auf etwas zu zielen, das verschwunden ist, schwierig, die zu erreichen, die es nicht mehr gibt.
Wozu soll das denn gut sein?, hatte sie Bárður und den Jungen gefragt, als die vor gut zwei Monaten das Englischbuch in die Fischerhütte mitgebracht hatten.
Damit wir »Ich liebe dich« und »Ich begehre dich« auf Englisch sagen können, hatte Bárður geantwortet, und ihr Herz hatte einen Sprung gemacht, es hatte so idiotisch gezuckt, und inzwischen kann sie »Ich liebe dich« auf Englisch sagen. Aber es ist natürlich ziemlich dämlich, abends über einem Buch zu brüten und diese Wörter, diesen kurzen Satz auswendig zu lernen, für den sie keine Verwendung hat, weder auf Isländisch noch auf Englisch oder in irgendeiner anderen Sprache.
Es klopft wieder. Ein kräftiges, entschiedenes Pochen. Bei Weitem nicht aufdringlich, dieses Klopfen sagt nicht: Zum Donnerwetter, warum dauert es denn so lange? Macht sofort auf, meine Zeit ist kostbar! Nein, das sagt es nicht, es wird also kaum Friðrik sein, der da klopft und mit neuen Drohungen ankommt, die er natürlich Angebote und Kompromisse nennt. Wer die Macht hat, misst den Wörtern andere Bedeutungen bei. Dieses Klopfen sagt: Es liegt mir viel daran, gehört zu werden. Es sagt auch, sieht
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