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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Traumtänzer?
    Gestern habe ich Ragnheiður getroffen. Sie ritt, wie sie es angekündigt hatte, bei Sonnenschein aus, und als sie das damals sagte, dachte ich, dass ich ein Teil davon wäre, der Sonnenschein, das Pferd, der Wind, der ihre Wange streichelt, aber als es jetzt so weit war, da war ich nichts oder fast nichts, nur ein Mann auf der Straße, der zur Seite gehen musste, der den Pferden Platz machen musste. Sie waren zu viert, stammten aus einer besseren Welt, strahlten vor Sauberkeit und allem, was wir nicht haben. Sie blickten nicht nach unten, sondern über uns hinweg.
    Er hatte sich vor einem Haus mit zwei kleinen Ebereschen im Garten an den Staketenzaun gelehnt und ihr einen Blick zugeworfen, nicht mehr, dann hatte er zu Boden geblickt, wie es sich geziemte, doch da waren ihm die Verse wieder eingefallen, oder vielmehr schossen sie ihm ins Blut wie eine Macht, Zeilen, die er in einer Zeitschrift gelesen hatte, die er von Gísli bekommen hatte; Zeilen aus einem erstaunlichen Gedicht eines amerikanischen Dichters. Ich bin Dichter des Fleisches, ich bin Dichter der Seele. Der Junge war fasziniert, Gísli nicht.
    Zu viel Lärm und Getue, sagte er, da fehlt die Konzentration. Da ist kein Zusammenhang, es löst sich in Häppchen auf, die einem nicht helfen. Verschwende deine Zeit nicht mit diesen Gedichten!
    Genau das aber tat der Junge, er verbrachte seine Zeit damit, sie abzuschreiben: Aus Grasblätter von Walt Whitman, übersetzt von Einar Benediktsson. Kein Reim, nicht die Spur davon, aber wuchtige Sätze, die eine ungehemmte, unbändige Kraft in sich haben und etwas Großes, etwas, das die Verheißung eines weiteren Himmels und einer größeren Erde in sich trägt. Er stand am Zaun, zwei kümmerliche Bäumchen reckten sich dem Licht entgegen, er guckte zu Boden, und das Gedicht schoss ihm ins Blut. »Hast du die anderen überflügelt? Bist du der Präsident? Das ist eine Lappalie, sie werden weiter als bis dorthin gelangen, jeder einzelne, und darüber hinaus.« Ich bin ein Gipfel erreichter Dinge, bin ein Umschließer künftiger Dinge. Mit diesen Worten im Blut blickte er auf, und sie sprachen aus seinem Blick, das ließ sich nicht leugnen. Bin ein Umschließer künftiger Dinge, so blickte er auf, geradewegs in Ragnheiðurs Augen. Sie war hoch, stolz, schön in ihrer Arroganz, in einem blauen Kleid mit weißen Spitzen, ein rotes Band im Haar, und sie hob sich deutlich von den anderen und vom Himmel ab. Ihre Blicke begegneten sich unausweichlich, ihre Lippen öffneten sich, als müsste sie schnell Luft holen, er sah, wie sich ihre Brust hob und senkte, die Brüste, die ihn einmal gestreift hatten, als wollten sie ihm etwas mitteilen, dann war sie vorbei, es war nur ein Augenblick, er blieb zurück und murmelte: Nun stehe ich auf diesem Fleck mit meiner robusten Seele.

XIX
    Vielleicht besteht gar kein so großer Unterschied zwischen Kaufmann Snorri und der heiligen Louise, die endlich aufgerichtet wurde und nun, abgetakelt und gerupft, wieder im Hafenbecken schwamm. Die engen Kajüten waren vom Seewasser beschädigt, und das meiste, was an die Matrosen hätte erinnern können, war verschwunden. Kapitän Andersen, Liebhaber, Ehemann und Vater, wartete mit seinem kleinen Kater zwischen unbrauchbar gewordenen Papieren, Büchern und Seekarten geduldig in der Kapitänskajüte. Die beiden wurden mit recht unziemlicher Eile, muss man sagen, bei uns auf dem Friedhof beigesetzt. Das Katzenvieh fuhr mit in die Grube – ohne Wissen von Séra Þorvaldur, der es selbstverständlich untersagt hätte oder zumindest in seiner oft geübten Rede durcheinandergekommen wäre, die vom Zerfallen zu Staub und vom Wiederauferstehen aus der Erde handelte, hoffentlich als Engel oder etwas anderem Gutem, jedenfalls ohne den Körper, dieses schwere Gepäckstück, das wir unser ganzes Leben lang mit uns herumschleppen. Sie falteten die großen Hände des Kapitäns über dem Kätzchen; das war gut, so war er nicht so allein. John Andersen wäre es auch nicht eingefallen, ohne diese Katze in den Himmel aufzufahren, die seine Tochter eigens für ihn ausgesucht hatte, weil sie ihn so sehr vermisste, wenn er auf Fahrt ging, und nun würde sie dieses Gefühl des Alleinseins nie mehr verlassen. Mann und Katze kamen also zusammen in die Erde, sie waren zusammen ertrunken und durften nun hoffentlich zusammen in die Ewigkeit eingehen, die uns doch wohl irgendwo mit einer Tasse Kaffee, guter Aussicht und einem schmackhaften Milchnäpfchen für

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