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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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erheblich jünger als die sonstigen Bewohner, kaum vierzig, aber in ihrem Kopf ist etwas kaputtgegangen, als sie vor vielen Jahren ihr Kind verloren hat, einen Sohn von zwei Jahren, und nun läuft sie bei jedem Wetter von morgens bis abends durch die Straßen, als wäre sie auf der Suche nach etwas, das sich nicht finden lässt, oft nur in einem schäbigen, löchrigen Kleid. In der Woche zuvor hat der Junge vier elf-oder zwölfjährige Bengel davongejagt, die sie verspottet und mit Steinen beworfen hatten.
    Mein guter Junge, sagt sie und streicht ihm über die Wange. Er schenkt ihr das Essen, das für Snorri bestimmt war, und bekommt einen Kuss zum Dank, einen kalten Kuss auf die Backe.
    Als er sich Magnús’ Laden nähert, sieht er eine Gruppe rauchender Matrosen von einem dänischen Schiff. Sie bleiben stehen, als sie ihn erreichen, und er zögert, spürt einen kurzen Angstschauer, aber nicht ihm gilt ihre Aufmerksamkeit, sondern dem Ruf eines Eierbauern, der mit seinem Sohn die Sjávargata heraufkommt. Die Ähnlichkeit ist nicht zu verkennen. Sie halten eine Trage zwischen sich, die sich unter Eiern und einigen toten Vögeln biegt. Beide, Vater und Sohn, gehen gebeugt – eine alte Gewohnheit, die in der Familie liegt und an den Behausungen dort oben ganz im Norden, die beiden kommen nämlich aus Strandir, wo man Vogeleier in den Felsklippen am Meer sammelt, in sehr steilen Klippen. Es ist nicht ganz ungefährlich, sich dort zum Eiersammeln abzuseilen, da werden Männer von Steinschlag getroffen und tot nach oben gehievt, ihr Leben lassen sie ebenso im Berg zurück wie ihre Erinnerungen und Sehnsüchte mitten in dem ganzen Vogelgekreisch. Die Häuser dort sind so schlecht und niedrig, dass ein erwachsener Mann darin niemals aufrecht stehen kann, und das prägt, darum halten sie sich immer gebeugt, wahrscheinlich aber auch weil sie zu großen Respekt vor Gott und dem Leben empfinden, um sich aufzurichten. So laufen viele von ihnen durch heiteren Sonnenschein und Windstille ebenso gebeugt wie bei schwerem Sturm, aber die meisten sind zäh wie Leder. Vater und Sohn sind spät dran, wahrscheinlich sind sie die Letzten, etwas mag sie aufgehalten haben, und es bleibt zu hoffen, dass die Eier nicht verdorben sind. Voll Hoffnung sind sie von zu Hause aufgebrochen und mit einem Wunschzettel der Daheimgebliebenen, die sich ein kleines Mitbringsel aus den Reichtümern der Geschäfte wünschen. Der Bauer ruft auf dem Weg zu Leós und Tryggvis Niederlassungen immer wieder laut: Eier, leckere Eier zu verkaufen!, denn er weiß, dass er in den Geschäften nur einen niedrigen Preis bekommen wird, weil er eben zu spät kommt, so ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Also ruft er: Eier, frische Eier zu verkaufen!, manchmal auch: Frisch gefangene Vögel!, weil er hofft, einiges direkt verkaufen zu können und so ein wenig mehr in die Tasche zu bekommen. Frische Vögel!, ruft er, obwohl schwer einzusehen ist, was an einem toten Vogel frisch sein soll, der Tod ist nie frisch, sondern oft elend und gnadenlos.
    Die dänischen Matrosen rufen etwas und winken die Eierverkäufer zu sich heran, und die schlagen ein schnelleres Tempo an, sind so froh über das Glück, das sie gefunden hat, dass ein Lächeln über das Gesicht des Sohnes huscht. Beim Vater liegen die dafür zuständigen Muskeln tiefer. Dabei haben sie Grund zur Freude, es sind recht viele Seeleute, und sie bezahlen in barer Münze. Was für ein Glückstag! Jetzt können sie sich darauf freuen, nach Hause zu kommen, vielleicht sieht der Sohn schon seine jüngeren Geschwister mit hoffnungsvoll strahlenden Gesichtern vor sich. Lieber Gott, das kann ein denkwürdiger Tag werden. Nicht zu schnell!, hört der Junge den Bauern sagen. Er pfeift seinen übereifrigen Sohn zusammen, und das ist gut so, denn es wäre doch ein Jammer, wenn sie sich jetzt zu sehr beeilten, über einen Stein stolperten, von denen weiß Gott genügend im Weg liegen, und die Eier von der Trage kippten. Der Junge bummelt absichtlich, um zu sehen, wie es weitergeht. Die Dänen betasten die Eier, der Bauer zeigt ihnen, wie man sie gegen das Licht hält. Ganz frisch, sagt er laut. Die Dänen zücken ihre Geldbörsen, die Sonne scheint groß und golden, der Himmel lacht heiter.
    Wie sich noch herausstellen wird, waren das nicht die letzten Eierbauern des Jahres.
    Der Junge ist inzwischen wieder bei Geirþrúðurs Haus angelangt, seinem Schutz und Asyl, und denkt noch immer an die Miene des Sohnes, an die

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