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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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hierher. Du hast mich ein bisschen viel angesehen, weißt Du das eigentlich? Du solltest deine Blicke nicht so unnütz verschwenden. Ich habe gleich gemerkt, dass Du ein hoffnungsloser Fall bist, und darum denke ich an Dich. Du hast nicht mal breite Schultern und siehst auch nicht sonderlich gut aus, außer vielleicht wenn man lange an dich denkt und keine hohen Ansprüche stellt. Meine Mutter hat mir mal geschrieben, dass man sich nie in einen Kerl verlieben soll. Man vertraut ihnen, und später ruinieren sie einem das Leben. Aber ich schlage nicht weniger nach meinem Vater als nach meiner Mutter und kann daher nicht viel von mir halten. Ich nehme an, Du verstehst es, Briefe zu schreiben, das habe ich Deinen Augen und Deinen Händen angesehen. Ich sehe, dass sie so gut wie gar nichts können und in nichts zu Hause sind. Ich kann keine Briefe schreiben. Außerdem glaube ich, dass die meisten Wörter von Männern erfunden wurden, und darum kann ich sie nicht brauchen. Ich verstehe sie nicht, und sie verstehen mich nicht. Verstehst Du, was ich sagen will? Und jetzt ist dieser dumme Bogen Papier voll. Ich habe rote Haare, und der Hund lässt Dich grüßen
    Damit endet der Brief.
    Kein Punkt.
    Aber unten in der Ecke hatte sie einen winzigen, grinsenden Hund gezeichnet, unglaublich, wie sie den da untergebracht hatte, er war so klein, dass der Zeigefinger des Jungen ihn verdecken konnte. Das Allerschlimmste an dem Brief war aber die Haarsträhne, die sie beigelegt hatte, als wüsste er nicht ganz genau, dass sie rothaarig ist, als hätte er das vergessen können. Das einzig Gescheite war, die Strähne wegzuwerfen, und das tat er auch, als er am Abend in sein Zimmer kam. Er warf sie weg. Und brachte anschließend die halbe Nacht damit zu, sie wiederzufinden.
    Der Junge gähnt.
    Hätte ich etwas unternehmen sollen?, fragt Gísli am Fenster.
    Unternehmen?, fragt der Junge abgelenkt. Was denn?
    Das ist es ja eben, ich weiß es nicht, vielleicht hätte ich ihr anbieten sollen, sie zu heiraten.
    Du Andrea heiraten?, sagt der Junge so verdattert, dass er die rote Strähne vergisst. Warum?
    Um zu verhindern, dass sie weggeht. Außerdem lebe ich allein, ich bin einsam, so ist es nun mal – wer allein lebt, hat niemanden, mit dem er reden kann.
    Sie ist schon verheiratet, sagt der Junge, aber Gísli scheint nicht zuzuhören, er guckt nur aus dem Fenster; da versenkt sich der Junge wieder in die alten griechischen Gedanken. Die Sonne steht an einem wolkenlosen Himmel, sie ergießt sich über die Berge und die Gesichter der Menschen, erleuchtet die blinden Augen Kolbeinns, der draußen an der Hauswand sitzt und dem Leben lauscht. Der Junge hat Kolbeinn versprochen, ihm von den alten Griechen zu erzählen, und darum liest er weiter. Anschließend stellt ihm Gísli Fragen zum Stoff, aber sie sind beide nicht bei der Sache, sodass Gísli irgendwann mitten im Satz abbricht: Ich glaube, wir lassen es für heute gut sein. Sie gehen im Übrigen alle weg, und man selbst wird zwischen Schulkindern, Wörtern und Whisky alt. Wie geht es denn Geirþrúður?, fragt er unvermittelt, fällt sich fast selbst ins Wort, und zuerst versteht der Junge ihn so, als würde er sich einfach nach Geirþrúðurs Befinden erkundigen, ob sie gut schlafen kann, ob sie von einer ertrunkenen Katze gleich neben einem Kapitän träumt. Er zögert mit einer Antwort, und Gísli fragt: Wie gedenkt sie zu reagieren?
    Reagieren? Worauf?
    Na, auf den Bann natürlich.
    Welchen Bann?
    Hat sie das nicht erwähnt?
    Den Bann?
    Ja.
    Welchen Bann?
    Du bist wahrscheinlich der Einzige, der nicht davon weiß, sagt Gísli und schüttelt den Kopf. Er ist quer durchs Zimmer zum Bücherregal gegangen, hat ein dünnes, zerfleddertes Büchlein herausgezogen und beginnt darin zu lesen.
    Was für ein Verbot denn?, fragt der Junge nach, als Gísli fortfährt zu lesen.
    Sie darf an den Trockenplätzen im Ort keinen Fisch mehr verarbeiten.
    Wieso nicht?
    Mein Bruder sorgt dafür.
    Warum?
    Er will, dass man ihm gehorcht.
    Aber ihm gehört nicht das ganze Gelände.
    Du meinst, es gehört nicht alles Tryggvi. Richtig, aber Friðrik versteht es, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Ich kenne das gut: Vor dem, was übermächtig ist, weichen die Menschen lieber zurück, sonst wird alles furchtbar schwierig.
    Und was kann sie nun mit dem Fisch von den Kuttern anfangen?
    Tja, das sind dann die Konsequenzen. Hast du das hier gelesen?, fragt der Lehrer und hält das dünne Buch hoch.
    Nein.
    So, so,

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